..87..

95 6 2
                                    

Der Schlaf hatte gutgetan. Die anderen waren bereits wach und Disse scheuchte uns schließlich in einen kleinen Park, der etwas außerhalb der Wohnsiedlung lag. Es war wirklich schön hier. „Aber das Beste, meine lieben Freunde aus der Hölle, habt ihr ja noch gar nicht gesehen", kündigte Disse strahlend an. „Ach, und das wäre?", fragte Rune neugierig. „Das Highlight", begann er, „ist dieser supergeniale Spielplatz, das ist ein Abenteuerland, eine andere Welt, ein-". Niko unterbrach ihn: „Ich hoffe gerade wirklich, dass das nicht dein Ernst ist". Er sprach mir aus der Seele – aber zustimmen wollte ich ihm nicht. „Guck nicht so überrascht, du Wiener Schnitzel. Du kennst mich doch!", lachte er auf und führte uns um die nächste Ecke. „Tadaaa, da sind wir. Kommt, lasst mal schaukeln gehen!". Seine Augen leuchteten begeistert auf. Jetzt mischte ich mich ein: „Du siehst mit deinen Glubschaugen schon, dass da gerade zwei Kinder schaukeln". „Die kann man beseitigen", grummelte er vor sich hin. Man konnte nur hoffen, dass er nicht selbst irgendwann mal Kinder haben würde. Rune klang unterdessen ziemlich genervt. „Warst du früher auch schon so peinlich?", stöhnte er auf. „Immer doch", grinste Disse ihm breit entgegen. Unser einziges Glück im Moment war wirklich, dass wir hier Deutsch sprachen und uns höchstwahrscheinlich keiner verstehen konnte.

Ich deutete Disse an, dass die zwei Kinder auf der Schaukel nun weg waren. „Ja, die müssen jetzt ins Bett... in Mazedonien schläft man früh. Ab sechs kommen die Gespenster", plapperte Disse. „Junge, wie viel Scheiß willst du denn noch labern?". Langsam platze mir wirklich der Kragen, ich hielt es einfach nicht mehr aus mit ihm. Und mit Niko erst recht nicht. Was machte ich hier überhaupt noch?

Disse war nun nicht mehr zu bremsen und steuerte zielgerichtet auf die nun freie Schaukel zu. Rune folgte ihm und Niko und ich blieben etwas unbeholfen zurück. Ich beobachtete die zwei Schaukelliebhaber, wie sie sich duellierten, wer wohl am höchsten kommen würde. Niko wirkte ratlos. Ich fasste all meinen Mut zusammen und meinte zu ihm: „Können wir kurz reden?". Er nickte leicht und wir letzten uns auf ein paar Steine, die den Spielplatz vom Weg abtrennten. Vor uns ging die Sonne unter, aber nach romantischer Stimmung war es mir echt nicht zumute. Ich hatte einen Entschluss gefasst, den ich Niko nun mitteilte: „Ich brauche einfach Zeit, ich weiß auch nicht wieso mich das alles so sehr mitnimmt, aber ich war in dem Moment einfach total entsetzt und auch enttäuscht von dir". Diese Worte trafen ihn hart, aber es musste einfach gesagt werden. „Ich kann das nicht von heute auf morgen vergessen, weil ich dich über alles liebe, Niko. Ich liebe dich wirklich, aber als ich das Bild von dir und Mara vor meinen Augen gesehen habe, da ist mein Herz einfach in tausend Teile zersprungen und jetzt ist es eben noch immer nicht wieder ganz zusammengesetzt. Gib mir einfach die Zeit, dann wird alles wieder gut". Niko war sehr ruhig geworden, wirkte nachdenklich. „Ich liebe dich doch auch, Steffen", platzte es schließlich aus ihm heraus. Allerdings konnte er mir nicht in die Augen schauen, die ganze Zeit schon starrte er auf den Boden unter sich. „Mara und ich sind gute Freunde und das werden wir für immer bleiben und dieser Kuss hatte nichts zu bedeuten und er hat auch nichts verändert. Sie ist und bleibt einfach eine gute Freundin. Wäre es kein Spiel gewesen, wäre ich doch niemals auf die Idee gekommen, eben, weil ich dich liebe". Jetzt blickte er das erste Mal auf, legte meine Hand in seine und suchte den Blickkontakt: „Ich würde und werde das niemals aufs Spiel setzten, Steffen, das musst du mir glauben".

Es beruhigte mich nicht zu hundert Prozent, aber vielleicht zu siebzig. Ich nickte. Worte waren mir in diesem Moment nicht eingefallen. Dann stellte er eine Frage, mit der ich im Leben nicht gerechnet hätte: „Darf ich dich bitte nur einmal küssen, Steffen? Ich will das richtige Gefühl wieder spüren". Ich ließ mich darauf ein – auch ich sehnte mich nach seinen Lippen, auch wenn ich das nur ungern zugab. Zuerst war es ein sehr zurückhaltender, langsamer Kuss, doch mit der Zeit wurden wir beide etwas fordernder und ich ließ mich einfach komplett fallen. Ich blendete alles um mich herum aus, versuchte zu vergessen, was letzte Nacht geschehen war und mir wurde ein weiteres Mal bewusst, wie sehr Niko mir doch am Herzen lag.

Die Situation danach war etwas komisch. Hand in Hand liefen wir zu Disse und Rune, die nun die Rutsche testeten. Innerlich war ich noch komplett gespalten. Wir hatten geredet, das war wichtig, aber abschließen konnte ich mit der ganzen Sache noch nicht. Nicht nach so kurzer Zeit. Ich hoffte inständig, dass Niko mir diese Zeit geben würde. Ich wusste nicht, was er gerade dachte, aber für mich war das eben ein erster Schritt zur Annäherung und ich hatte auch kein schlechtes Gewissen mehr Rune und Disse gegenüber.

„Heute Abend bowlen? Was haltet ihr davon? Naja, eigentlich habt ihr keine Wahl, ist alles schon geregelt", faselte Disse. „Schon gut, hört sich spaßig an", lachte ich und bekam zustimmendes Nicken von Rune und Niko. „Zwei Jungs aus meiner Mannschaft kommen auch mit, lasst euch von denen nicht irritieren", verkündete er anschließend. Und er wäre nicht Christian Dissinger, wenn nicht noch irgendein Spruch folgen würde... „Die wollen euch Kieler ausspannen und ausschalten, dass ihr nie wieder auf die Platte zurückkehren könnt und die wollen euch wie so ein Quetsch-Joghurt auspressen, damit ihr jedes noch so kleine Detail über Alfreds Strategien preisgebt". „Du bist doch die Quasselstrippe, die wissen bestimmt schon alles", grinste Rune zufrieden. Disse verzog beleidigt das Gesicht und war fürs Erste stillgestellt.

Es war wirklich ein netter Abend mit den Jungs und zwischen Niko und mir herrschte nicht mehr die eisige Stimmung von heute Morgen. Wir kamen erst spät wieder zurück in die Wohnung und hatten dementsprechend wenig Schlaf. Am Sonntagnachmittag schauten wir Disse und Co beim Spiel zu, danach gingen wir noch gemeinsam etwas essen und trinken. Montags mussten wir daher erstmal ausnüchtern und da es sowieso regnete, verbrachten wir den letzten Tag in Disses Wohnung, spielten Gesellschaftsspiele, schauten uns komische Fernsehserien an und bestellten mittags Pizza. Abends brachte Disse uns zurück an den Flughafen, für uns ging es zurück nach Deutschland.

„War mega schön, dass ihr hier wart", meinte unser Freund, „und wenn ich frei habe komme ich euch dann besuchen". „Es war wirklich schön, du fehlst echt in Kiel", lächelte Rune und nahm unseren Zwei-Meter-Mann zum Abschied in den Arm. Niko und mich drückte Disse zusammen und grinste uns hinterlistig an: „Jetzt, wo wieder alles gut bei euch ist habe ich noch einen Witz für euch: Streiten sich zwei Schwule, sagt der eine zum anderen: „Leck mich doch am Arsch", sagt der andere: „Ey, von Versöhnung war nicht die Rede". Guten Flug, ihr Zebras und Turteltäubchen und was auch immer". Er brach in schallendes Gelächter aus und machte so den ganzen Flughafen auf sich aufmerksam. Er stand halt schon immer gerne im Mittelpunkt. „Danke für den Witz, ich wünsch dir auch ne gute Zeit und hoffentlich bis bald", schmunzelte ich. Niko verabschiedete sich auch nochmal richtig, dann waren wir wieder alleine.

„Oh man, Leute, jetzt kehrt erstmal wieder Ruhe ein", seufzte Rune, als wir am Gate auf unseren Flug warteten. „Wie haben wir das bloß Tag ein Tag aus mit diesem hyperaktiven Menschen ausgehalten?", fragte ich fassungslos. „Wir wussten einfach nicht mehr, was es bedeutet, seine Ruhe zu haben und von niemandem dumm vollgequatscht zu werden", äußerte sich Niko. „Naja, jetzt geht für uns wieder der Handballalltag weiter und wahrscheinlich heulen wir morgen im Training schon wieder rum, dass alles so anstrengend ist und da würden uns ein paar einfallsreiche Worte von unserer Discokugel bestimmt aufheitern", beendete Rune die Konversation. Unser Flugzeug stand bereit und wir konnten nun einsteigen.

„Ist bei euch eigentlich alles wieder gut?", wollte Rune wissen, nachdem das Flugzeug abgehoben hatte. „Ich hab vielleicht wirklich scheiße gebaut am Freitag, aber das wird wieder, ich bin mir sicher", antwortete Niko und lächelte mich leicht an. „Jeder macht Fehler", sagte ich, „am Ende geht es darum, sich diese einzugestehen und offen darüber zu reden. Bei mir ist die Eifersucht durchgekommen und ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle, ich habe Sachen gesagt, die ich vielleicht nicht so gemeint habe". „In jeder Beziehung gibt es mal Stress. Mit tut es leid, dass ich mich in eure Angelegenheiten eingemischt habe. Ich hätte mich da einfach raushalten sollen und vor allem hätte ich Disse nichts sagen dürfen. Das war dumm von mir", entschuldigte sich nun auch Rune. „Schon gut, wie gesagt, wir machen alle Fehler, keiner ist perfekt", wiederholte ich nochmals. Eine Runde Gruppenkuscheln und ich hatte jetzt endlich das Gefühl, dass nichts mehr zwischen uns stand. Ja, jetzt ging es mir das erste Mal an diesem Wochenende wieder richtig gut.

Von Hamburg aus ging es weiter nach Kiel. Wir hatten alle noch Schlafmangel von letzter Nacht, daher war es im Auto auch ziemlich ruhig. Jeder folgte seinen eigenen Gedanken, beziehungsweise versuchte ich, Nikos Gedankengänge nachzuvollziehen. Würde er mir die Zeit geben oder war ich es ihm nicht wert?

Am Abend lag ich alleine im Bett, hundemüde, in gewisser Weise trotzdem zufrieden, aber nichtsahnend, was am nächsten Morgen auf mich zukommen würde. 

LIEBE auf den zweiten Blick - Steffen -Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt