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Aus irgendeinem Grund gewann ich ziemlich hoch. Normalerweise kam man doch in neun von zehn Spielen gar nicht erst zu einem Sieger, oder? Trotzdem hatten wir beide Spaß und daher schlug Niko vor, ich sehe was, was du nicht siehst zu spielen. „Geil". Das würde vielleicht witziger werden. Ich hatte das zuletzt mit acht Jahren oder so gespielt. Es erinnerte mich dennoch so enorm an meine Kindheit. Es war eines meiner Lieblingsspiele. „Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist gelb", begann Niko sofort und mein Blick huschte einmal quer durch das Flugzeug. Dann fing ich an zu lachen: „Die Bananenfrau da vorne?". „Welche Bananenfrau?", fragte Niko verwundert, dennoch lag ein Lächeln auf seinem Gesicht. Ich deutete auf die Frau, die in meinem Blickfeld lag: Gelbe Hose, gelber Mantel, gelbe Gummistiefel. „Ist sie's nun?", hakte ich nach, da ich noch immer keine Antwort bekommen hatte. „Nö", säuselte Niko und schmunzelte.

Auf einmal entdeckte ich eine andere gelbe Sache im Flugzeug. Ich war mir sicher, dass Niko dieses... nun ja... Meisterwerk gemeint hatte. „Meinst du zufällig Disses Handyhülle?". Im nächsten Moment bekamen wir beide einen Lachflash. Eine Quietscheentenhülle, sowas hatte ich echt noch nie gesehen. Es passte einfach zu Disses Dummheit. Zu genial. „Eine Unverschämtheit, hier so laut rumzubrüllen!", schnauzte mich der Mann hinter mir an. Ich verdrehte nur genervt die Augen.

Als wir landeten war ich derjenige, der Niko wecken musste. Er quengelte, also streckte ihm meine Hand entgegen und zog ihn auf die Beine. Die meisten Passagiere waren bereits ausgestiegen.

Auf der Busfahrt suchte ich ein Gespräch mit Rune, ich setzte mich auf meinen gewöhnlichen Platz neben ihn, doch er ignorierte mich vollständig und hatte nur seine Kopfhörer aufgezogen und gab vor, zu schlafen.

Idiot! So ein richtiges Kind!

Also wartete ich vor dem Hotel lieber auf Niko, anstatt mit Rune hineinzulaufen. Er war einer der letzten, der ausstieg, hinter ihm folgten nur noch Disse und Andi. In der Lobby suchte ich Marko auf, der den Zimmerschlüssel bereits in den Händen hielt. Wir bezogen unser kleines Reich, anschließend ging Marko zu Dule und ich lief nach draußen, um den Kopf etwas freizubekommen. Alleine. Ich brauchte diese Zeit. Ich lief durch einen kleinen Park hindurch, vorbei an einem kleinen See, der mehr wie ein Teich aussah, ich beobachtete die Leute und die Kinder, wie sie herumtollten und Spaß hatten. Einige Meter abseits von mir stand ein Liebespaar, das sich wohl im Moment aber öffentlich zankte. Ich verstand zwar kein Französisch, aber dass die beiden gefrustet waren, war aus der sonst so ruhigen französischen Stimme rauszuhören. Es ermutigte mich in gewisser Weise. Als Single musst du eben auf keinen Rücksicht nehmen und es gibt niemanden, der dir vorschreibt, was du tun sollst. Vielleicht könnte ich mich wirklich noch mit dem Gedanken anfreunden.

Nach knappen zwei Stunden trat ich wieder den Rückweg an. Eine halbe Stunde hatte ich noch bis zur Abfahrt. Im Zimmer zog ich mich schnell um und wollte dann mal nach Marko schauen, der wahrscheinlich ein weiteres Mal die Uhr nicht im Blick hatte. Wie oft musste ich ihn schon bei Auswärtsfahrten aus irgendwelchen Cafés oder Zimmern ziehen, weil er seine balkanische Ruhe mit Dule und Miha genossen hatte? Außerdem lag seine Tasche noch immer unberührt auf seinem Bett herum. Also ging ich wieder nach draußen und traf... nun ja... auf einen halb nackten Niko und einen sich den Bauch vor Lachen haltenden Christian Dissinger. Ich wusste wirklich nicht, was das für eine Aktion war, denn plötzlich tauchte auch noch unser lieber Trainer aus dem Fahrstuhl auf. Niko, Niko, Niko... „Ist der paralysiert?", schrie Disse über den halben Hotelflur und brachte Niko somit nicht in eine wirklich angenehmere Lage. Aber sein Anblick war nun wirklich auch zum Lachen. Alfreds Blick ebenfalls unbezahlbar. „Ne noch knappere Boxershorts hattest nicht da oder?", presste ich lachend hervor. Der Arme. Was er sich dabei gedacht hatte? Fragt mich nicht!

Disse zerrte den glaub selbst verstörten Niko zurück ins Zimmer und ich suchte weiter Marko auf, der – wie erwartet – bei Dule und Miha im Zimmer verweilte. „Jungs, wir müssen bald los", klärte ich die drei auf. Wenn ich plötzlich erschien, wussten sie eigentlich sowieso schon immer, was kommen würde. Marko kam direkt mit mir mit und packte seine Trainingssachen dann ebenfalls zusammen. „Ich geh schon mal vor", teilte ich meinem Zimmerkollegen mit. „Ich komme gleich nach".

Natürlich waren die drei Herren dann die letzten am Bus.

Ich nahm mir für das folgende Training vor, nett zu Rune zu sein. Waffenstillstand. Zumindest von meiner Seite aus. Inständig hoffte ich natürlich darauf, dass Rune genauso erwachsen war.

„Ähm Leute, wo ist Disse?", fragte gerade Erwähnter kurz vor Trainingsbeginn. Tatsächlich, Disse war nicht da. „War der im Bus?", wollte ich wissen. Marko stellte sich zu uns dazu: „Sucht ihr Disse? Die Kabine war leer, ich war der letzte".

„Jungs, herkommen!", schrie Alfred durch die Halle und sofort standen wir alle brav auf und versammelten uns in einem Kreis um unseren Trainer. „Ey", zischte Marko uns zu, wurde aber direkt von Alfred unterbrochen. Also warteten wir, bis die Mannschaften eingeteilt waren und mein Zimmerkollege erklärte: „Hab dem geschrieben, er hat gesagt, dass wir ihn einfach vergessen haben".

Vergessen?! Disse?! Ernsthaft?! Wie dumm war der eigentlich?

„Wir sollen so tun, als hätten wir keine Ahnung", schob Marko noch hinterher, bevor er dann aber selbst loslachen mussten. So ein Schussel konnte auch nur Disse sein. Alfred motzte uns an, dass wir mitspielen und nicht reden sollten. Entweder hatte er Disses nicht-Anwesenheit wirklich noch nicht bemerkt oder er war ein guter Schauspieler. Denn wenn der isländische Vulkan mal explodierte, dann gab es keine Gnade mehr.

Das Training nahm tatsächlich seinen weiteren Lauf, ohne dass der Name Christian Dissinger auch nur einmal gefallen war. Hätte ich nicht erwartet.

Im Zwei-gegen-Zwei merkte man Rune und mir allerdings an, dass wir wohl gerade nicht so gut aufeinander zu sprechen waren. Unsere Aktionen endeten meist in einem unfairen Ringkampf, den jeder für sich gewinnen wollte. Dennoch bekam ich ein Lob von Alfred. Beziehungsweise Niko und ich. Rune erhielt keines. Sollte mir recht sein.

Auf der Rückfahrt hockte plötzlich Rune neben Niko. Da saß er noch nie. Wollte er mir jetzt nicht gönnen, dass ich einen neuen besten Freund gefunden hatte? Hatte er wirklich vor, sich zwischen uns zu drängen? Arschloch...

So setzte ich mich genervt neben Marko und stöhnte laut auf. „Alles klar?", fragte er sofort und schaute mich mitleidig an. „Nein, eigentlich nicht... aber was soll's", murrte ich und warf noch einmal einen Blick auf Rune und Niko, die schräg vor uns saßen. Jetzt bemerkte Alfred glaub, dass Disse ja die ganze Zeit gefehlt hatte. „Wer weiß etwas?", brodelte seine Stimme durch den Bus. Man könnte Angst bekommen, aber mit Emotionen hatte ich es im Moment ja sowieso nicht so arg. Wir vier schwiegen jedenfalls, auch wenn Niko fast gepatzt hätte.

Trotzdem fingen wir anschließend an zu lachen, als sich der Bus in Bewegung gesetzt hatte. Rune raunte seinem neuen Buddy irgendwas zu, dieser schien aber nicht zu reagieren, also wurde Rune fordernder und schrie laut: „Bilyk!". Jetzt war ich wirklich genervt, was hatte ich Rune getan, dass er sich so gegen mich stellen musste? Auf einmal, ohne Vorankündigung! Ich verstand die Welt nicht mehr. „Dahmke!", äffte ich ihn in einer scheußlichen Stimme nach. „Weinhold!", kam es wiederum von ihm und er gaffte mich mit Blicken, die töten könnten an. „Was hast du für ein scheiß Problem?", fuhr ich ihn lautstark an. „Ich hab' gar kein Problem – schau dich an, dann siehst du dein Problem". Ich konnte es echt nicht fassen... „Ich hab' dir nichts getan", stellte ich nochmals klar. „Schön, trotzdem gönnst du mir mein Glück nicht", provozierte er mich weiter. „Ich gönne dir dein Glück nicht? Sag mal geht's noch? Was ist nur mit dir los?".

Ich hatte das Gefühl, für die anderen hier im Bus wirkte das alles eher wie ein Schauspiel, denn Rune und ich stritten uns nie. Aber es war purer Ernst, was wir hier gerade abzogen und es war mir scheißegal, dass die komplette Mannschaft uns hierbei zuhörte.

Irgendwann verschränkte ich beleidigt die Arme vor der Brust und schaute aus dem Fenster. Ich traf auf Markos Blick und sofort wollte er wissen: „Ist das der Grund?". Kaum merklich nickte ich. „Ich weiß nicht, was er hat". „Lass dich nicht provozieren, bleib einfach ruhig". „Wenn ich das nur so könnte, wie du". Ja, Marko war ja wirklich ein Vorbild. Egal was war, immer blieb er ruhig und gelassen. Das bewunderte ich so sehr an meinem Zimmerkollegen, obwohl er immer behauptete, dass ich genauso gelassen wäre. Aber wenn dein bester Freund dich grundlos dumm anmacht, dann konnte auch ich mich nicht mehr zurückhalten. „Das wird wieder", munterte mich unser Serbe auf und setzte sich dann wieder seine Kopfhörer auf. Auch ich holte mein Handy hervor, checkte meine neusten Nachrichten und versuchte alles zu ignorieren, was sich um mich herum abspielte.

LIEBE auf den zweiten Blick - Steffen -Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt