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Am nächsten Morgen wachte ich wie gewöhnlich durch meinen Wecker auf, machte mir wie immer meinen Kaffee und führte meine tägliche Routine im Badezimmer durch. Ich packte meine Tasche fürs Training und nahm mir noch eine Banane als Zwischensnack aus dem Kühlschrank. Alles ganz normal. Doch dann klingelte es an meiner Haustüre. Entweder Post oder Niko stand auf der Matte. Alles andere schloss ich in diesem Moment aus. Ich ging an meine Sprechanlage und setzte einen etwas genervten Unterton auf. „Lass mich rein!", ertönte die Stimme am anderen Ende und mir wurde etwas mulmig zumute. Vielleicht täuschte ich mich. Ich hoffte es zumindest...

Leider traf meine Befürchtung ins Schwarze. Sie war es wirklich! Nach zehn Monaten stand sie wieder vor mir!

„Sally, was tust du hier?", fragte ich angespannt und ein ungutes Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Der Maxi-Cosi in ihrer Hand war mir nicht entgangen. Mein Herz hämmerte wild gegen meine Brust, Sally wirkte kühl und wenig begeistert, mich nach so langer Zeit wiederzusehen. „Was... ist das für ein... Kind?", stammelte ich sichtlich überfordert.

Ihre folgende Antwort sollte von nun an mein ganzes Leben auf den Kopf stellen. Emotionslos meinte sie: „Ist dein Kind, ich will es nicht". Sie drückte mir den Maxi-Cosi in die Hand und das erste Mal sah ich das Gesicht des kleinen Babys. Es schlief. Tränen bahnten sich den Weg über meine Wangen. Es war, als würde die Zeit für einen Moment stillstehen. Ich fühlte weder Leid, noch Schmerz, noch Trauer, noch Freude, noch sonst irgendwas. Mein Körper fühlte sich an wie ein Wrack und alles zog an mir vorbei als würde ich gerade träumen. Ich war erstarrt.

Sally wollte sich schon wieder umdrehen und gehen, doch ich hielt sie zurück: „Nein, du kannst nicht einfach abhauen! Warum? Warum das alles?". Mit leerem Blick schaute ich zu ihr. Nun bröckelte allerdings auch ihre harte Fassade und sie meinte: „Kann ich reinkommen?". Ich trat einen Schritt zur Seite. Sie lief an mir vorbei und setzte sich an meinen Esstisch. Das mysteriöse Kind stellte ich im Wohnzimmer ab und setzte mich meiner Ex-Freundin schräg gegenüber. „Sie heißt Valeria, ist zwei Monate alt", beichtete sie. Meine Tränen waren getrocknet, aber ich fühlte mich schrecklich. Ich sagte erstmal gar nichts darauf, ich hatte sehr viel zu verdauen. Sally spielte nervös an ihren Fingernägeln herum. „Warum jetzt? Warum kommst du jetzt zu mir?", fragte ich verständnislos. Beinahe ein Jahr war vergangen. „Ich packe es nicht, ich wollte nie ein Kind, ich werde gehen", wimmerte sie. „Warum hast du es ausgetragen? Du... wir...", stammelte ich erschöpft. „Es ging nicht... es ging einfach nicht... mein Herz konnte nicht", sagte sie ehrlich. Das hatte ich nun wirklich nicht erwartet.

Erneut schwiegen wir beide vor uns hin. Valeria wachte gerade auf und fing an zu schreien. Sally schlug verzweifelt ihre Arme um ihren Kopf und hielt sich die Ohren zu. „Ich halte das nicht mehr aus!", quengelte sie. Ich ging zu, naja, meiner Tochter und nahm diese in den Arm. Sie beruhigte sich schnell. Sally hingegen nahm wieder ihre alten Züge an und sah mich eindringlich an: „Behalte sie oder gib sie weg. Ich will nichts mehr mit dem Kind zu tun haben, ich haue ab, ich halte es hier in Deutschland nicht mehr aus". „Wo willst du denn hin?", fragte ich nach. Sie drückte Valeria einen letzten Kuss auf den kleinen Kopf und sah mich dann wieder an. „LA. Lebt wohl, ihr Zwei", presste sie hervor und ging.

Sie ging einfach weg. Ließ mich alleine mit einem kleinen Säugling zurück und drehte sich nicht mal mehr um. Valeria fing wieder an zu schreien. Hatte sie Hunger? Musste sie gewickelt werden? Ich hatte keine Ahnung, was ich mit so einem kleinen Kind machen musste. Ich sackte auf den Boden zusammen und ließ meinen Tränen freien Lauf. Schluchzend versuchte ich das Geschehen eben zu verarbeiten, aber es ging nicht. So viele offene Fragen. Warum hatte sie mir nie gesagt, dass ich Vater geworden war? Warum hatte sie die Schwangerschaft vor allen verheimlicht? Was zur Hölle wollte sie in Amerika? Wie konnte ich das meiner Mannschaft je erklären?

LIEBE auf den zweiten Blick - Steffen -Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt