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Ein Monat später

Jimin trat an das frisch angerichtete Grab. Auch wenn keine Überreste darunter seine Heimat fanden, so sollte es als Symbol dienen. Der Silberhaarige ließ sich auf das grüne, saftige Gras nieder.
"Für eine Ewigkeit, wollte ich dich dafür verantwortlich machen, dass du gegangen bist, dass du mir Träume gezeigt und sie dann zerstört hast. Ich wollte dich hassen und verabscheuen. Einfach alles. Ich wollte dich hassen, weil du mein Herz, mein Ich, gebrochen hast, aber dann dachte ich über dich nach. Ich wusste, dass du schlimme Dinge getan hattest, das tat jeder, du hast gelogen, mich in jeglicher Weise tyrannisiert. Aber du bist nicht schlecht, weil du mich nicht gewählt hast. Du bist nicht schlecht, du warst nur niemals gut für mich. Ich werde mir nicht sagen, dass ich schlecht für dich war, ich war dein Sohn, bin es noch. Ich dachte, das könnte dich ändern. Ich weiß, dass ich dich geliebt habe, manchmal sogar genug für uns beide. Ich werde nicht in einer Ecke sitzen und meine Liebe zu dir bereuen, ich werde nicht glauben, dass ich nicht gut genug war. Denn ich war es, ich bin es immer noch. Als Kind war ich immer genug, genauso wie als Teenager, du hast es nur nie gesehen, weil du so geblendet warst von Macht. Und eines Tages habe ich gemerkt, dass ich nicht der Richtige war. Und Jihyun würde es auch nie sein. Also bin ich gegangen."
Seine Tränen schmälerten seine Sicht und er sah zum Himmel, um sie wegzublinzeln. Er atmete tief ein und aus.
"Manchmal lieben einen die Menschen nicht so, wie man es gern hätte und das ist ätzend, doch es gibt immer eine strahlendere Seite an dem Ganzen. Du hast mir gezeigt, was ich niemals von der Liebe möchte oder erwarte. Du hast mir gezeigt mich selbst zu lieben, während ich zu einem Monster wurde."
Der Griff um den Blumenstrauß verfestigte sich, während der Wind um seinen Körper fegte. Die Tränen brachen hervor und er ließ ihnen freien Lauf. Eigentlich wollte er nicht weinen. Nicht vor seinem Vater, der sein Dasein als normalen Menschen nicht sonderlich schätzte, sondern die Tötungsmaschine dahinter. Aber ein klitzekleines Stück in Jimin selbst konnte diese Emotion nicht abstellen. Es war natürlich, dass man trauerte, auch über Menschen, die einen psychisch und physisch zerstört hatten, dass machte einen nicht weniger menschlich. Und Jimin wusste, dass dieser kleine Teil auch ehrlich traurig war, dass sein Vater nicht mehr unter den Lebenden weilte. Und das war in Ordnung. Das gehörte dazu. Dafür schämte und hasste er sich nicht.
Die Blüten starrten ihm entgegen, als er sie auf das Grab seiner Mutter und das seines Bruders legte.
"Hey Mum", hörte er aus seinen Mund, auch wenn er nicht merkte, dass er sprach.
"Ich möchte, dass du mir verzeihst. Ich bin gegangen, ohne mich zu verabschieden, habe dich und Jihyun allein bei ihm gelassen. Ich bin gegangen, ohne zu fragen, ob ihr nicht mit mir ziehen wollt. Aber tief in meinem Inneren wusste ich, du würdest bei Dad bleiben. Er war dein Ehemann und doch ein Monster. Ich mache dir keinen Vorwurf, dass du ihn liebtest und mit angesehen hast, wie ich gelitten habe. Ich weiß, wie es ist jemanden zu lieben, wie es ist bei jemanden zu sein, der einen sieht!"
Er seufzte und tupfte sich über die Wangen. Die Tränen wollte einfach nicht versiegen und Jimin merkte, dass dies das erste Mal war, seit dem Tod seiner Familie, dass er weinte. Er lachte laut auf, schlug sich jedoch kurz darauf die Hand vor den Mund. Er atmete hörbar aus, schloss die Augen und kehrte in sich.
"Ich frage mich, ob du irgendwann gemerkt hast, dass Dad sich veränderte und dann sage ich mir immer, dass du das gar nicht übersehen konntest, weil es sein komplettes Dasein einnahm."
Er blickte auf die kühlen, dunklen Grabsteine, die zwischen all dem Grün merkwürdig erschienen und dachte an die vielen Malen zurück, wo sie ihn zusammengeflickt hatte, jede Narbe küsste und jeden Verband ohne Widerworte immer erneuerte. Sie war eine gute Seele gewesen, gleichwohl sie als Mutter an einigen Stellen, in seinen Augen, nicht richtig gehandelt hatte, aber er würde sie nicht in den Dreck ziehen. Viel mehr versuchte er ihren damaligen Standpunkt zu verstehen. Niemand war perfekt, auch nicht in der Erziehung von Kindern.
Sein Blick glitt zu Jihyun. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als Jimin an die etlichen Stunden des Versteck-Spielens und ihre kleinen Raufereien zurückdachte.
"Hey Champ, tut mir leid, dass du so lange nichts von mir gehört hast. Es ist viel passiert und ich denke, du würdest meine neuen Freunde mögen, vor allem Taehyung."
Er grinste bei der Vorstellung seinen kleinen Bruder mit dem Blondhaarigen zusammen Mario Kart oder Fußball spielen zu sehen.
"Ich muss mich entschuldigen. Für viele Dinge, aber allen voran, dass du allein warst mit Dad. Ich habe nie bezweifelt, du könntest nicht gegen ihn ankommen und doch verfluche ich mich jede Nacht dich in der Hölle zurückgelassen zu haben."
Heiße, salzigen Tränen rannen seine Wangen hinunter und Jimin konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. Und dann war es vorbei. Die Dämme brachen und seinen Leiden wurde hemmungslos. All den Schmerz, all die zurückgedrängten Emotionen, die Gedanken, positive wie negative, krochen an die Oberfläche und zerstörten sein so hervorragend einstudiertes Pokerface. Aber das war ihm egal. Er wollte nur alles von sich werfen, die Last, den Schmerz, die Erinnerungen.
"Du bist ein großartiger Mensch und ich liebe dich und ich hoffe, du findest deinen Weg."
Für einen Moment schien die Sonne auf die Erde zu treten, Für einen Moment dachte Jimin, er sehe seine Mum und Jihyun, wie sie lächelnd auf der anderen Seite schwebten und ihm zu wanken. Und Jimin blickte in ihre Augen, er sah in ihren Iriden, dass sie ihm verziehen, dass sie ihn liebten und auf ewig an seiner Seite waren.
Er erhob sich und trat zurück. Die Bäume wanden sich über ihm, im stetigen Takt rauschte der Wind hindurch und brachte die Äste und Stämme zum Krächzen, zum Knacken, zum Rumoren. Blumen zogen über seine Narben, verdeckten und verschönerten sie, das Moos füllte die einsamen Fragmente seiner selbst, dort, wo seine Angst nistete. Angst, davor loszulassen. Aber er musste es tun, um zu wachsen, um sich selbst zu entfalten, um zu seinem richtigen Ich zu erblühen.
Irgendwann nach Stunden wuchs ein Schatten über ihm. Jimins linkes Auge öffnete sich und die schwarzen Locken einer ihm wohlbekannten Person sprangen ihm ins Auge.
"Hallo, Jungkook", nuschelte er verschlafen und lehnte sich vor. Ein Marienkäfer setzte sich auf seine Schulter, während Jungkook sich zu ihm herunterbeugte, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu Hauchen. Das allseits bekannte Prickeln durchfuhr den Kleineren und er fragte sich, ob es jemals verschwinden würde, ob es einen Zeitpunkt gab, an dem er sich an diesem Gefühl sattgegessen hatte. Er kicherte, was Jungkook dazu veranlasste eine Augenbraue zu heben.
"Hallo, Jimin."
Natürlich merkte der Schwarzhaarige seinen Gemütszustand, der noch immer auf Kippe stand. Es war nicht anders zu erwarten, schließlich hatte er bisher die Trauer niemals zugelassen. Und das nun zu tun, rief andere Emotionen hervor, die er eine sehr lange Zeit unterdrückte.
Er seufzte wohlwollend auf, als er Jungkooks Aftershave wahrnahm. Jimin fand es einmal mehr überraschend, wie beruhigend der Duft des Jüngeren war und wie viel Kraft sie ihm zurücksandte.
"Wir haben unsere Arbeit erledigt", teilte der Schwarzhaarige ihm mit und deutete mit der Hand hinter sich.

Canary [JiKook]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt