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Die Tage zogen ins Land.
Jungkook kümmerte sich wirklich herzzerreißend um ihn, doch Jimin konnte sich noch immer nicht aufraffen, um dem Alltag entgegenzutreten. Dieses Vakuum, worin er gefangen war, wollte ihn nicht freigeben und so sehr er versuchte zurück an Land zu kommen, eine unsichtbare Macht hielt ihn zurück, hielt ihn in diesem zähen, dickflüssigen Schlamm fest, dessen Konsistenz an Teer erinnerte. Es roch nach Verwesung und Tod und Jimin hatte das Gefühl er würde jede Stunde ein bisschen mehr darin versinken. Und er konnte nichts dagegen tun. Gut, um fair zu sein, er wehrte sich auch nicht dagegen. Dieses monotone Treiben zeugte auf einer Seite von Ruhe und Geborgenheit, es war beinahe so, als würde die Masse ihn zu einem Teil von sich machen, ihn sich einverleiben. Denn wenn er ehrlich war, ganz ehrlich, war er es leid jeden Tag zu kämpfen, nicht nur um in der Zivilisation klarzukommen, sondern auch gegen seine inneren Dämonen zu kämpfen. Ihnen die Stirn zu bieten, bot sich nicht mehr an, denn die Erschöpfung durchflutete seinen Körper, ertränke jeden Muskel, jede Zelle, jedes Dasein, dass er einmal war. Und er war es leid, leid, leid, dass ihm der Atem schwerfiel, das Essen an Geschmack verlor, die Umgebung nur noch in einem dunklen Grau erschien.
"Hier."
Jungkook stellte ihm eine Schüssel mit Cornflakes hin und setzte sich neben ihn. Der Schwarzhaarige hatte sich in den letzten Tagen nützlich gemacht und ein wenig aufgeräumt, was Jimin nicht zuletzt überraschte, denn wer hätte ahnen können, dass Jeon Jungkook, hiesiger Mafiaboss Seouls, Drache des Westens, Inhaber etlicher Firmen, Unternehmen, Clubs und Bars, sich erbarmte und aufräumte. Darüber musste der Silberhaarige im Stillen kichern. Er verlor langsam aber sicher den Verstand. Er merkte es. Er merkte, wie die richtige Welt ihm aus den Händen glitt, immer weiter und weiter von ihm weg, sodass er sie nicht einmal mehr zu fassen bekam. Die Tatsache fand er beängstigend und andererseits äußerst beruhigend. Vielleicht sollte er der Dunkelheit gestatten ihn vollends zu verschlucken, ihn in sich aufzusaugen, sodass er sich nicht mehr mit der Realität auseinandersetzen musste. Dann wären seine Alpträume, die Gedanken, all das Schlimme, Grauenvolle, Verderbliche aus seinem Kopf verschwunden.
"Und du mit ihm."
Jimin blickte verwirrt von seinen Cornflakes auf und beobachtete wie Jungkooks Gesicht traurig wurde. Der Kleinere verstand nicht, worauf der Schwarzhaarige hinaus wollte.
"Du hast laut gedacht."
Oh. OH. 
Jimin biss sich auf die Lippen. Eigentlich wollte er vermeiden, dass er Jungkook mit seinen Gedankenspielen beschäftigte, schließlich waren es seine.
"Jimin."
Der Größere richtete sich auf und stellte seine Schale beiseite. Innerlich bereitete sich der Silberhaarige auf die Predigt seines Lebens vor. Doch nach wenigen Sekunden herrschte noch immer Stille. Erst jetzt merkte, Jimin, dass er die Augen geschlossen hatte. Jungkook erhob sich, umfasste sein Handgelenk und zog ihn mit sich. Der Weg führt sie einmal quer durchs Haus, bis sie in der zweite Etage ankamen. Das Zimmer, welches sie betraten, entpuppte sich als Jimins ehemaliges Kinderzimmer, wo er stets geschlafen hatte, wenn er seine Oma besuchte. Abertausende Erinnerungen regneten auf ihn nieder, weshalb er panisch nach Luft schnappte. Jungkooks Händedruck verstärkte sich, und Jimin erinnerte sich daran, wessen Hand er hielt, wessen Hand ihm Halt spendete. Die frühste Erinnerungen an dieses Zimmer war, als er gerade sieben geworden war. Die Ferien hatten begonnen und er wollte unbedingt herkommen. Baden, das Wetter genießen, vor allem aber seinem Vater entfliehen, der begann sich komisch zu verhalten. Zu diesem Zeitpunkt durfte er sich aussuchen in welchem Zimmer er ruhen wollte, und seine Entscheidung fiel auf dieses, wo Jungkook und er gerade standen. Er war überrascht, wie intakt das Zimmer war. Hier hatte er Stunden verbracht, hier hatte er gezeichnet, hier hatte alles begonnen, was später sein Leben ausmachen würde. Der Silberhaarige entdeckte in Mitten des Raums neben den abgedeckten Möbeln einen Hocker, eine Leinwand und die verschiedensten Farbtöpfe. Der Größere schob ihn hinein.
"Ich weiß, dass ich Dir in diesem Kampf gegen dich selbst keine Hilfe sein kann, weil du es mit dir ausmachen musst, aber eins musst du wissen-"
Jungkook drehte ihn um, damit er ihn ansehen konnte.
"Es gibt sechs Menschen, plus Bambam und Baekhyun und Yugyeom und Chanyeol und so viele mehr, die dich ins Herz geschlossen haben, die dich mögen, die dich sich um dich sorgen. Auch wenn ich dir nicht helfen kann, vielleicht kann das Zeichnen dor helfen von diesen dunklen Gedanken, die dich penetrieren zu befreien-"
Der Schwarzhaarige schenkte ihm dieses Lächeln und Jimin war für einen Moment geflasht von dieser Intensität, dass es ihm den Atem verschlug.
"Und die Wahrheit ist: Du sammelst diese Narben, weil du irgendjemandem beweisen willst, allen voran dir selbst, dass du für deine Sünden bezahlst..."
Jimin drohte zu ersticken, denn die Worte des Größeren trafen wortwörtlich in das schwarze Etwas, worin er gefangen war.
Der Kloß in seinem Hals begann Übermacht zu nehmen und dieses Gefühl der Taubheit und des Bewusstwerdens bedeckte sein Denken. Jimin wollte sich abwenden, doch Jungkook ließ ihn nicht los, hielt ihn eisern fest und als die Tränen begannen zu fließen, rutschte der Silberhaarige zu Boden. Seine Beine konnten diese unsichtbare Macht nicht mehr halten, ihn nicht mehr halten und er schrie und schrie und schrie, bis seine Stimme heiser und die Tränen versiegten. Jungkook hielt ihn durch den Sturm hinweg, dessen Gemütszustand ihn überrollte, hielt ihm stand, als wäre er ein Fels in der Brandung, was er in gewisser Hinsicht auch war. So oft wie der Schwarzhaarige ihm schon das Leben gerettet hatte.
"Du musst nicht für deine Sünden bezahlen, Jimin. Du musst für gar nichts bezahlen. Dein Verstand mag dir das so vermitteln. Dich trifft keine Schuld. Wir alle haben schreckliche Dinge getan, schreckliche Dinge gesehen, schreckliche Dinge gehört. Aber du bist ein Mensch, du hast ein Recht darauf zu leben und ich möchte, dass du das tust. Du bist kein Monster, keine Bürde oder Ähnliches. Du bist ein Lebewesen dieser Erde und solange ich lebe, werde ich dich jeden Tag daran erinnern und es ist mir egal, ob dir das überdrüssig wird. Ich durchstehe die Hölle für dich, nur damit ich endlich wieder ein Lächeln auf deinem Gesicht sehen kann."
Jimin nickte nur, während die Erkenntnis wie ein Lavastrom auf ihn zuschoss.
Jeon Jungkook hatte Recht. Wie immer. Der Schwarzhaarige half ihm auf und setzte ihn anschließend vor die Leinwand.
"Sammel dich, versuch dich von den Gedanken abzulenken. Wenn was ist, ich bin unten."
Und damit ließ er ihn allein.
Jimin griff unbewusst nach einem Pinsel. Mit einem Finger griff er in die Borsten und ließ sie über seine Fingerkuppe fahren. Das Gefühl empfand er als beruhigend, wie die Stille nach einem Sturm. Und er war Jungkook dankbar, dass er ihn nicht drängte sich zu öffnen, dass er da war, ihm Halt spendete. Denn oftmals erschien es so, dass er in diesem Vakuum nicht bereit für eine Konfrontation oder Konfliktlösung war. In diesem Zeitraum brauchte er Nähe, einfach nur das Beisein einer Person, die Trost schenkte. Das andere würde erst später kommen. Als der Silberhaarige die Pinselspitze in den ersten Farbeimer tunkte, fühlte es sich so an, als würde er einen alter Freund begrüßen. Und er merkte, dass Jungkook dies beabsichtigen wollte, Ablenkung war zu Beginn etwas tröstliches, etwas schönes und Jimin war sich im Klaren, dass irgendwann die Zeit kam, wo er beginnen musste sich mit diesen Gefühlen auseinanderzusetzen. Ansonsten konnte er nicht heilen. Und dann verstand er etwas:
Leben war erstaunlich. Und dann wieder grauenvoll. Und dann wieder wundervoll. Und zwischen diesem Atemberaubenden und dem Miserablen war es normal und banal und eine langwierige Rountine. Aber das war das Schöne daran. Man konnte das Wundervolle einatmen, während dem Normalen und Banalen ausatmen und sich halten, wenn das Dunkle, Schmerzliche über einen zusammenbrach.
So war das Leben, das herzzerreißende, seelenheilende, atemberaubende, grausame, normale Leben.
Und es war einmalig.

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Guten Abend, meine lieben Leser und Leserinnen!
Ich glaube, dieses Kapitel ist eins meiner Lieblinge. Es spiegelt so viel von mir und meinen tagtäglichen Kämpfen wieder, dass ich mich umso mehr freue es Euch zu präsentieren!

Wie findet Ihr, bewältigt Jungkook die Handhabung von Jimins Problemen?

Feel free to comment!

Erin🌸

Canary [JiKook]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt