Ich wartete auf den Schlaf.
In letzter Zeit musste ich besonders viel an meine Eltern denken.
Es gab Leute,die an den Himmel glaubten,von einem Ort jenseits des körperlichen Daseins,zu dem die Seele nach dem Tod hinauffuhr,aber mit dieser Vorstellung hatte ich nie etwas anfangen können.
Die Welt war die Welt,ein Reich der Sinne,das man berühren,schmecken,fühlen konnte,und ich vermutete,dass die Toten,wenn sie sich überhaupt irgendwo hinbegaben,in den Lebenden aufgingen.
Vielleicht hatte mir das jemand gesagt,vielleicht war ich auch selbst drauf gekommen.
Aber so lange ich zurückdenken konnte,war ich davon überzeugt,dass es so war.
Solange ich meine Eltern im Gedächnis behalten konnte,würde ein Teil von ihnen weiterleben,und wenn ich selbst eines Tages stürbe,würden diese Erinnerungen zusammen mit mir in andere übergehen,die noch lebten.
So würden sie alle-nicht nur ich und meine Eltern,sondern alle,die schon gegangen waren und die noch kommen würden-immer weiterleben.
Die Gesichter meiner Eltern konnte ich mir nicht mehr vor Augen rufen.
Sie waren als Erstes verschwunden,schon nach wenigen Tagen.
Wenn ich an sie dachte,sah ich sie weniger,als dass ich sie fühlte.
Es war eine Woge von erinnerten Empfindungen,die mich wie Wasser durchfluteten.
Der sanfte Klang der Stimme meiner Mutter.
Die Form ihrer Hände,blass und feingliedrig,aber zugleich kraftvoll,wenn sie ihrer Arbeit nachging.
Sie wollte im Bett sterben,da widersprach ihr keiner.
Wenn ich an diesen Sommer dachte,an diese langen Tage und endlosen Nächte,dann war es,als habe ich diesen Abschnitt meines Lebens nie ganz hinter mich gelassen.
Ich erinnerte mich an eine Geschichte,die die Lehrerin mir einmal erzählt hatte:Eine Schildkröte kroch auf eine Mauer zu.Jeder Schritt war jeweils nur halb so groß wie der vorherige,auf die Weise kam sie nie ans Ziel.
So hatte ich mich gefühlt,als ich meiner Mutter beim Sterben zusah.
Drei Tage lang hatte sie in einem unruhigen Fieberschlaf verbracht,aus dem sie immer wieder erwachte,um gleich wieder wegzudämmern.
Sie hatte kaum ein Wort gesprochen und nur die einfachsten Fragen beantwortet,die für ihre Pflege nötig waren.
Ab und zu hat sie einen Schluck Wasser getrunken,aber das war alles.
Ich machte mich auf das Ende bereit.
Es war dunkel im Zimmer aber ich sah den glänzenten Schweiß auf ihrer bleichen Stirn,und ihre Hände-die Hände,denen ich zum Teil stundenlang bei der Arbeit zugesehen hatte-lagen reglos neben ihr.
Seit es Abend geworden war,hatte ich das Zimmer nicht mehr verlassen,damit sie nicht allein war,wenn sie aufwachte.
Dass der Tod nur noch wenige Stunden entfernt war,wusste ich.
Daran hatte ich keine Zweifel gelassen.
Aber eigentlich sagte es mir die Reglosigkeit ihrer Hände auf der Decke,die ihre lange,geduldige Arbeit eingestellt hatten.
Wie nahm man Abschied?
Würde es sie erschrecken,wenn ich die Worte ausspräche?
Und was würde die Stille ausfüllen,die danach käme?
Bei meinem Vater hatte ich keine Gelegenheit dazu gehabt,und in mancher Hinsicht war dies das Schlimmste gewesen.
Er war einfach verschwunden,im Nichts.
In der Dunkelheit der Nacht.
Und jetzt starb meine Mutter.
Wenn der Tod ein Raum war,den die Seele betrat,dann stand sie auf der Schwelle,und trotzdem fand ich nicht die richtigen Worte,um ihr zu sagen,was ich empfand:dass ich sie liebte,und dass sie mir fehlen würde,wenn sie fort wäre.
Das erste weiche Licht des Morgens erfüllte die Fenster,als ich hörte,wie ihre Atmung sich veränderte,in ihrer Brust stecken blieb wie ein Schluckauf.
Eine schreckliche Sekunde lang glaubte ich,der Augenblick sei gekommen,aber dann öffnete sie die Augen.
Mama?,sagte ich und nahm ihre Hand.
Mama,ich bin hier.
Jessica,sagte sie.
Pass auf dich auf,lass sie dich nicht holen,wie sie es mit deinem Vater machten.
Dann schloss sie die Augen und öffnete sie nicht mehr.
-Samu-
Verwirrt wachte ich nach ein paar Stunden Schlaf auf.
Meine Gedanken schwammen in den Strömungen angstvoller Träume.
Aber sie waren nicht meine,sondern die von Jessica.
Ich konnte hören,was sie dachte,ohne ich dass ich meine Kräfte einsetzen musste.
Sie dachte viel über ihre Vergangenheit nach und irgendwann realisierte ich,dass ich derjenige war,der ihren Vater vor knapp 20 Jahren getötet hat.
Ihr Vater war Vampirjäger und als wir eines Abends ihre Familie überfielen,konnte ich ihr junges Gesicht nie vergessen.
Sie weinte und ihre Mutter hielt sie in ihren Armen.
Die Anderen wollten die Beiden auch umbringen aber ich hielt sie ab.
Wahrscheinlich erinnerte sie sich gar nicht mehr daran,so jung war sie noch.
Aber das Entscheidene war letztendlich,dass sie meine Frau war.

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R U N
Vampiros>>Unter dem Stockholm-Syndrom versteht man ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Dies kann dazu führen, dass das Opfer mit den Tätern sympathisiert und mit ihn...