4 Ein U-Boot auf dem Trockenen

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„Woher kennst Du diese Musik?" Jannis wunderte sich, dass Tom nicht nur keine Antwort gab, sondern auch blass wurde. Seine Ohren glühten. „Hey, so schlimm ist's ja nun auch nicht. Was ist denn los?"

Tom wusste nicht, was er sagen sollte. Christinas Ermahnungen klingelten in seinen Ohren: „Sprich nie über das, was Du hier gesehen hast." Er vertraute Jannis, aber er fühlte sich an sein Versprechen gebunden.

Die Militärjunta hatte schließlich nicht nur Mikis Theodorakis ins Konzentrationslager gesteckt, sondern seine Musik auch strikt verboten. Zwar blühte sie im Verborgenen, denn in vielen griechischen Häusern wurde sie weiterhin gehört. Zwar wurde der Musiker von weiten Teilen der Bevölkerung als Ikone des Widerstands verehrt, zumal er schon einmal, zwanzig Jahre zuvor, für seine politische Überzeugung gekämpft hatte und inhaftiert worden war. Dennoch hüteten sich die Griechen, in der Öffentlichkeit seine Lieder zu singen. Die Bespitzelung war – wie in Diktaturen weltweit üblich – allgegenwärtig, und die Strafandrohung real.

„Ich hab ein paar Lieder bei Freunden meiner Gastgeber gehört, und die Musik geht mir nicht mehr aus dem Kopf."

Niemals wäre ihm vor wenigen Tagen eine solche Formulierung eingefallen. Tom verstand schlagartig, wie Terror funktioniert. Staatsterror. Vor zwei Tagen hätte er natürlich die Namen seiner Gastgeber genannt, nun aber vermied er es, weil er Christina und ihre Freunde nicht in Gefahr bringen wollte. Etwas Selbstverständliches nicht zu tun, sein Verhalten aus Furcht vor den Folgen für sich oder Freunde zu ändern, Menschen mit Misstrauen entgegenzutreten, anstatt ihnen offen zu begegnen, das ist es, was staatlicher Terror bezweckt.

Jannis beugte sich zu ihm hinüber und sprach noch leiser:

„Wenn wir diese Musik nicht hätten, wenn wir Mikis nicht hätten, dann wären wir verloren. Aber die Musik ist da, und Mikis können sie nicht umbringen, selbst wenn sie ihn töten. Deswegen werden sie verlieren, und wir werden gewinnen."

Tom wunderte sich. In den zwei Tagen hatte er einige Griechen kennengelernt, und fast immer war das Gespräch über kurz oder lang auf Politik gekommen. Einen Befürworter der Militärdiktatur hatte er bisher nicht getroffen, keinen einzigen. Wer stützte dann dieses Regime? Wie konnte es sich an der Macht halten? Wie funktionierte die Repression? War es wirklich so einfach: verbiete den Menschen, zu singen, was sie wollen, und Du hast die Macht?

Verwirrende Gedanken. Allmählich dämmerte ihm, dass der Urlaub ein wenig anders verlaufen würde, als er es sich ausgemalt hatte. Nicht, dass er eine konkrete Vorstellung gehabt hätte. Er war neugierig auf das fremde Land, die riesige Stadt, das Mittelmeer. Und nun war er plötzlich mitten in einem Leben gelandet, das mit dem, was er bis vor zwei Tagen gekannt hatte, nicht mehr viel zu tun hatte.

Nach den Erlebnissen des gestrigen Abends begriff Tom, dass ihm Jannis mit seiner Äußerung nicht nur zu verstehen gab, auf welcher Seite er stand, sondern auch, dass er ihm Vertrauen entgegenbrachte. Jannis seinerseits konnte an Toms Reaktionen ablesen, dass der sich offenbar auch mit politischen Fragen beschäftigte.

Er mochte die Deutschen. Trotz der widrigen Lebensumstände hatte er sich in Köln wohlgefühlt und hätte sicherlich Eirene nachgeholt, wäre seine Verletzung nicht dazwischengekommen. Er freute sich, wenn er in Athen Deutsche traf, und nicht nur einmal hatte er einen Tag damit verbracht, Touristen die Stadt zu zeigen. So etwas wie dieser Junge war allerdings nicht dabei gewesen. Als er in der U-Bahn hörte, wie er Theodorakis vor sich hin summte, hatte er Vatergefühle entwickelt.

Gern wäre er selbst Vater geworden, aber mit Eirene konnte er keine Kinder haben. Zuerst war er darüber sehr traurig, ganz kurz war ihm auch einmal der Gedanke gekommen, sie zu verlassen und mit einer anderen Frau eine Familie zu gründen. Schließlich hatte er sich mit der Realität abgefunden und seine väterlichen Gefühle fortan Nikos, dem Sohn seines ältesten Bruders gewidmet. Nikos war 16 und besuchte, wie schon Jannis, die deutsche Schule. Er war ein guter Schüler mit Schwächen in den naturwissenschaftlichen Fächern, dafür mit einem Talent für Sprachen gesegnet, sodass er nicht nur gut Deutsch, sondern auch passabel Englisch und Französisch sprach.

Die richtigen Leute Band 1: Die grüne LeuchtschriftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt