Die ersten Minuten der Busfahrt verliefen sehr ruhig. Keiner der beiden Jungen wollte das Gespräch eröffnen. Nikos merkte, dass sein deutscher Freund etwas auf dem Herzen hatte, und malte sich verschiedene Möglichkeiten aus, was passiert sein könnte. Probleme mit Sophia? Ärger mit Christina? Heimweh? Er tappte völlig im Dunkeln. Tom hätte am liebsten sofort über seine Sorgen berichtet, aber er wollte sich das für einen ruhigeren Ort ohne eventuelle Zuhörer aufheben. Ihm fiel aber auch kein anderes, belangloseres Thema ein, mit dem er das Schweigen überbrücken konnte. Nikos schaute ihm beim Grübeln zu. Endlich gab sich Tom einen Ruck:
„Hab ich Dir eigentlich schon gesagt, dass ich vor allem wegen des Kanals nach Korinth wollte?"
Bei all seiner Unwissenheit über Griechenland war es eben dieser Kanal, der ihn faszinierte. Er hatte in einem Buch über die Bauarbeiten gelesen, das auch Zeichnungen aus verschiedenen Bauphasen enthielt. Seitdem war seine Neugier geweckt. Sein Traum war es, den Kanal zu Fuß zu überqueren. Allerdings fragte er sich, ob das überhaupt möglich war. Er wusste, dass es eine Eisenbahnbrücke ebenso gab wie eine Straßenbrücke, aber ob man die zu Fuß betreten durfte?
Er offenbarte Nikos seine Idee, und dieser hatte auch gleich eine Lösung parat. Umgehend marschierte er zu dem Schaffner, der gelangweilt auf seinem Sitz vor sich hin dämmerte. Als er ihn ansprach, hellte sich sein Gesicht auf, und er hob zu einem langen, gestenreichen Monolog an, der vermutlich die komplette Geschichte des Kanals beinhaltete. Zweimal musste er sich unterbrechen, weil einige Reisende zustiegen, und da der Bus erst auf sein lautes „Fije!" weiterfuhr, hatte er bei diesen Gelegenheiten natürlich wichtigere Dinge zu tun.
Als sein Vortrag beendet war, hatte Nikos nicht nur erfahren, dass es eine Haltestelle direkt an der Auffahrt zur Kanalbrücke gab, sondern auch, dass man sie sehr wohl auf dem Seitenstreifen der Fahrbahn zu Fuß überqueren durfte. Die Vorfreude darauf verdrängte für den Moment die schweren Gedanken, die Tom mit sich herumtrug.
Die Lektüre von Abenteuerbüchern, aber auch Fernsehsendungen über ferne Länder hatten bei ihm eine große Neugier geweckt. Ganz oben auf der Liste standen Oasen in der Sahara, das Land Persien, die Pyramiden von Gizeh, das geheimnisumwitterte Stonehenge, und eben der Kanal von Korinth. Er war kurz davor, eins seiner Traumziele zu erreichen. Endlich war die Stimmung wieder so locker, wie es unter den beiden Freunden üblich war.
Wenig später erreichten sie die Haltestelle. Der Schaffner scheuchte sie aus dem Bus. Irritiert bemerkte Tom zwei Männer in billigen Anzügen, die auch ausstiegen. Was stimmte nicht mit ihnen? Verstohlen musterte er sie aus den Augenwinkeln, bis ihm klar wurde, was ihn so verstörte: ihre Stirnen schimmerten grünlich. Sie verschwanden eilig in einer Taverne direkt hinter der Haltestelle. Er fand seine Beobachtung zu abwegig, um sie Nikos mitzuteilen.
Noch war von dem Kanal nichts zu sehen. Die Asphaltstraße, über die viele LKWs und noch mehr PKWs rauschten, stieg leicht an, sodass die Brücke und das entgegengesetzte Ufer noch nicht sichtbar waren. Auf dem Fußweg am linken Straßenrand bewegten sich die beiden sich auf den Kanal zu. Dann erschien ihnen gegenüber die braune Wand des südlichen Kanalufers.
„Bist Du schon mal hier gewesen?" fragte Tom.
„Nein, ich bin nicht viel rumgekommen. Attika, die Insel Evia, Ihr nennt sie Euböa, und Thessaloniki kenne ich, aber ich war nie südlich oder westlich von Athen."
Als sie die Brücke betraten und einen vollen Blick auf den Kanal werfen konnten, war Tom zunächst sprachlos. Er hatte sich den Wasserweg viel breiter vorgestellt, dafür aber nicht so tief. Wie mit einer überdimensionalen Säge war einfach ein Stück aus der Landschaft entfernt worden. Steile braune Wände und ein langer, schnurgerader, sehr schmal wirkender Kanal waren entstanden. Der Fußweg bestand aus Metallgittern, durch die man nach unten schauen konnte. Für Menschen mit Höhenangst wäre das ein Albtraum, dachte Tom. Sie näherten sich der Mitte der Brücke, als die parallel in einiger Entfernung verlaufende Eisenbahnbrücke ins Blickfeld kam.
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Die richtigen Leute Band 1: Die grüne Leuchtschrift
Historical Fiction„Die grüne Leuchtschrift" ist der erste von 20 Bänden meiner Buchreihe „Die richtigen Leute". Tom, ein 15-jähriger Deutscher, verbringt die Sommerferien im Jahr 1969 in Griechenland, wo eine Militärdiktatur herrscht. Kaum angekommen, lernt er im Hau...