Viel zu früh stand Tom auf. Voller Vorfreude auf die bevorstehende Seereise lief er singend und pfeifend durch die Wohnung und packte seine Tasche. Als Christina in einem hellrosa Morgenmantel sichtlich verschlafen in der Küche erschien, bemerkte er ein leises Hungergefühl. Er bereitete Kaffee für beide. Christina stopfte derweil immer mehr Sachen in eine große Ledertasche, denn Tante Kyras Einkaufsliste war lang. Plötzlich fiel Tom ein, dass sich gut die Hälfte seiner Kleidung noch in der Wäscherei befand. Der Laden lag zum Glück auf dem Weg zum Fährhafen, sodass er sie unterwegs abholen konnte.
Beim Frühstück erzählte Christina von Mykonos, wobei Tom den Eindruck gewann, dass sie es dort eher langweilig fand. Es gab laut ihrer Schilderung zwar eine Reihe netter Tavernen, aber nur eine Bar, die regelmäßig Tanzvergnügen organisierte, und wenn man keine ausgesprochene Wasserratte war, gab es tagsüber eigentlich nichts anderes zu tun als Schatten zu suchen, der aber aufgrund der fehlenden Vegetation auf der Insel nur im Städtchen zu finden war.
Zwar liebten es die Griechen, sich am Strand aufzuhalten, aber Tom war aufgefallen, dass vor allem die Frauen nicht zum Schwimmen ins Wasser gingen, sondern in Grüppchen im knietiefen Wasser standen und tratschten. Dabei erschufen sie sich mit riesigen Strohhüten ihr eigenes Schattenreich. Er konnte sich Christina so gar nicht in einem solchen Kaffeekränzchen vorstellen. Ihr Bericht trübte seine Vorfreude dennoch nicht. Es überwog einfach die Neugier auf das Unbekannte.
Kurz vor neun kam Nikos, und Christina überreichte Tom zum Abschied eine Tube Sonnencreme. Zwar hatte sich seine Haut als recht widerstandsfähig erwiesen, aber sie bläute den Jungen ein, auf dem Schiff das Gesicht und besonders die Nase zu schützen, weil die Strahlung auf dem Meer noch intensiver sei als an Land. Tom bedankte sich artig für die Anteilnahme und hatte die Predigt vergessen, sobald er auf die Straße trat.
Um diese Zeit war die Hitze noch nicht so drückend. Der Bürgersteig war an vielen Stellen feucht, denn die meisten Ladenbesitzer oder Hauseigentümer reinigten am frühen Morgen Hauseingänge und oft auch den Gehsteig, und zwar mit einer sehr chlorhaltigen Lauge. Die Großstadt hatte natürlich viele Schmutzecken, aber zu dieser Stunde strömte die Straße, auch wegen des aseptischen Geruchs, Sauberkeit aus.
Als Tom und Nikos sie passiert hatten, stiegen zwei Männer aus ihrem Ford und folgten ihnen mit großem Abstand.
Tom löste seine Kleidung in der Wäscherei aus, dann liefen sie in Richtung Fährhafen. Nikos hatte die Tasche mit den Mitbringseln für Tante Kyra über seine rechte Schulter gehängt, und seinem Gang war anzumerken, dass auf dieser Seite deutlich mehr Gewicht zu bewältigen war als auf der anderen, wo er seine eigenen Habseligkeiten trug. Viele Menschen waren auf dem Weg zu den Fähren, sodass sie nur noch langsam vorankamen.
Die beiden Geheimpolizisten hatten Mühe, Tom nicht aus den Augen zu verlieren, aber sie blieben ihm auf den Fersen, bis ihnen ein haltender Lastwagen die Sicht versperrte. Als der LKW weiterfuhr, waren die beiden Jungen verschwunden.
Im Fährhafen dümpelten die Schiffe, die den Transport zu den zahlreichen größeren und kleineren Inseln aufrecht erhielten.Einige machten keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck, denn selbst von Weitem waren die Rostspuren nicht zu übersehen. Das Schiff, das die beiden Abenteurer nach Mykonos bringen sollte, machte einen recht soliden Eindruck. An Bord fiel Tom auf, dass viele Hinweisschilder in einer skandinavischen Sprache und in Englisch gehalten waren, während die griechische Übersetzung nachträglich hinzugefügt war.
Das Schiff war anscheinend in einem früheren Leben in Skandinavien unterwegs, und tatsächlich erfuhren die Jungen von einem Matrosen, dass es zwischen Dänemark und Schweden gefahren war, bis dort größere Fähren eingesetzt wurden, die auch Fahrzeuge transportieren konnten. Das reine Passagierschiff wirkte für die Jungen ziemlich groß. Es gab fünf Decks, drei mit Kabinen, die aber auf dieser Fahrt weitgehend leer blieben, und zwei mit Aufenthaltsräumen und Restaurants, die ständig überfüllt und völlig verräuchert waren. Tom und Nikos begaben sich, nachdem sie das ganze Schiff erkundet hatten, auf das Sonnendeck, um von dort aus das Ablegemanöver zu beobachten.

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Die richtigen Leute Band 1: Die grüne Leuchtschrift
Historical Fiction„Die grüne Leuchtschrift" ist der erste von 20 Bänden meiner Buchreihe „Die richtigen Leute". Tom, ein 15-jähriger Deutscher, verbringt die Sommerferien im Jahr 1969 in Griechenland, wo eine Militärdiktatur herrscht. Kaum angekommen, lernt er im Hau...