Ein Mühlstein lag um Toms Hals, als er in sein Zimmer schlich. Unschlüssig schaute er aus dem Fenster. Dann legte er sich auf das Bett, wo er die längste halbe Stunde seines Lebens verbrachte, denn so lange dauerte es, bis es an der Tür klingelte.
Er hätte sich am liebsten hinter Stephanos versteckt, als Christina die Tür öffnete, aber mannhaft stellte er sich neben seinem Gastgeber auf. Sophias Vater, in blauem Anzug mit schneeweißem Hemd und Krawatte, begrüßte der Reihe nach Christina, Stephanos und Tom, ohne Umarmungen, sehr ernst und förmlich. Hinter ihm kam seine Frau, in einem festlichen, ebenfalls blauen Kleid, gefolgt von Sophia und Georgios in ihren Entenhausen-Kostümen. Sophia drückte Toms Hand, ohne ihn anzusehen. Georgios boxte ihn freundschaftlich vor die Schulter, aber in seinem Gesicht war kein Lächeln, eher so etwas wie ein verunglücktes Grinsen. Tom rutschte sein Herz mit einem „Plumps" in die Hose. Er bereitete sich innerlich auf die Gardinenpredigt seines Lebens vor.
Was dann kam, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen.
Still und mit ernsten Mienen setzten sich alle ins Wohnzimmer. Christina brachte der schweigenden Gesellschaft Wasser – Wein hatten die Gäste dankend abgelehnt. Sophias Vater setzte zu einer Rede auf Griechisch an. Er richtete seine Worte an den Hausherrn, aber Tom wusste, dass es um ihn ging.
Als er geendet hatte, schnauzte Stephanos Tom an:
„In die Küche!"
Gehorsam folgte er seinem Gastgeber, der die Tür hinter ihnen schloss und flüsterte:
„Vorsicht, ich schreie jetzt!"
Unvermittelt brüllte er los.
„Wie blöd kann man eigentlich sein? Du küsst ein Mädchen und lässt Dich von ihrem Vater dabei erwischen? Bist Du eigentlich noch ganz bei Trost? Sowas tut man einfach nicht, Du Idiot." Er nahm Fahrt auf. „Du kannst einem griechischen Vater doch nicht seine Tochter klauen, was denkst Du Dir denn eigentlich? Hat Dir Dein Freund Nikos nicht gesagt, was passiert, wenn man bei sowas erwischt wird? Hat Dich Christina nicht gewarnt? Aber nein, der junge Mann weiß ja alles besser. Wie soll ich Deinen Eltern erklären, dass Du als Verlobter nach Deutschland zurückkommst?"
„Was? Verlobter?" stammelte Tom.
„Weißt Du, was die wollen?" schrie Stephanos. „Ihr seid jetzt verlobt, und Du musst sie heiraten. Ihr habt Schande über die ganze Familie gebracht. Es gibt nur einen Weg, das wiedergutzumachen. Heute ist Verlobung, und in einem Jahr ist Hochzeit. Herzlichen Glückwunsch, Idiot!"
Die Stille, die sich in der Küche ausbreitete, war ohrenbetäubend. In Toms Kopf drehte sich alles. Das war also der Plan. Deshalb hatte Sophias Vater bis heute geschwiegen. Hochzeit!
„Ich kann doch nicht heiraten, ich bin 15," stotterte er.
„Da hättest Du vielleicht etwas eher dran denken sollen," sagte Stephanos deutlich ruhiger. „Aber so sind die Regeln, und das hast Du die ganze Zeit gewusst. Christina hat mir gesagt, sie hätte Dich ermahnt, oder etwa nicht? Die Sache ist so einfach: Sophias Vater hat recht, Du musst Dich mit ihr verloben."
„Meine Eltern bringen mich um."
„Dann weißt du ja ungefähr, wie sich Sophia jetzt fühlt."
Daran hatte Tom noch gar nicht gedacht. Tränen schossen ihm in die Augen. Er schämte sich. Kein Loch könnte tief genug sein.
„Was soll ich denn machen? Ich kann mich doch nicht einfach verloben," schluchzte er ungehemmt.
Stephanos sah ihn eine Weile schweigend an. Dann brüllte er wieder los:
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Die richtigen Leute Band 1: Die grüne Leuchtschrift
Fiction Historique„Die grüne Leuchtschrift" ist der erste von 20 Bänden meiner Buchreihe „Die richtigen Leute". Tom, ein 15-jähriger Deutscher, verbringt die Sommerferien im Jahr 1969 in Griechenland, wo eine Militärdiktatur herrscht. Kaum angekommen, lernt er im Hau...