33 Der Wagenlenker

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Georgios erwartete Sophia und Tom in dem Café, wo sie sich einige Stunden zuvor getrennt hatten. Er holte eine große Karaffe mit eiskalter Limonade. Gemeinsam überlegten sie, wann und wo sie sich wieder treffen könnten. Sophias Vater würde in den nächsten Tagen nach Nordgriechenland aufbrechen, um seinen Eltern für einige Wochen bei der Ernte zu helfen. Sobald er nicht mehr in Piräus war, wollten sie zusammen nach Agios Andreas fahren, um den Tag mit Nikos zu verbringen. Tom sollte ihn überreden, ein Boot aufzutreiben, mit dem sie Wasserski fahren konnten. Georgios konnte es gar nicht erwarten, diese spannende Sportart auszuprobieren.

Eine halbe Stunde, nachdem die Geschwister die U-Bahn bestiegen, machte sich auch Tom auf den Heimweg. Zuhause angekommen, telefonierte er mit Nikos und verabredete sich für den nächsten Tag mit ihm. Diesmal wollten sie nun tatsächlich nach Delphi fahren.

Sie trafen sich um acht am Busbahnhof, wo Hochbetrieb herrschte. Während sich Nikos am Ticketschalter anstellte, warf Tom ein paar Münzen in den Blechtopf, den ein Bettler vor sich aufgestellt hatte, und kaufte bei dem beinamputierten Händler auf dem Rollbrett fünf Navy Cut. Der Mann lächelte ihn an:

„Efcharisto, Jermanikos."

Nikos kam aus dem Gebäude und packte Tom am Arm:

„Los, schnell, der Bus nach Delphi fährt gleich ab!"

Im Bus, den sie mit einem Sprint gerade noch erreichten, erzählte Tom, was in den letzten zwei Tagen passiert war.

„Du bist ein Glückspilz, Gangster," kommentierte Nikos.

Tom konnte ihm nur zustimmen. Natürlich war der Besuch von Sophias Eltern einer der härtesten Momente seines Lebens gewesen, doch der Ausflug auf die Akropolis hatte ihn für seine Seelenqualen mehr als entschädigt.

„Du bist mit dem schönsten Mädchen von Piräus verlobt," fasste Nikos Toms Vereinbarung mit seiner Freundin für das nächste Jahr zusammen. Auch ihm war schon aufgefallen, dass Sophias Vater mit seinem strikten Auftritt genau das erreicht hatte, was er ursprünglich verlangt hatte, nur wusste er nichts davon: Tom und Sophia hatten sich ein Versprechen gegeben.

Delphi war zunächst eine Enttäuschung. Nichts wies darauf hin, dass dieser Ort ein Zentrum des antiken Griechenlands gewesen war. Einige Tavernen und Geschäfte, ein paar kleine Hotels und eher schlichte Wohnhäuser, die sich beiderseits der Straße aufreihten, mehr hatte der moderne Ort nicht zu bieten.

Eindrucksvoller war schon eher die Landschaft, ein lang gezogenes, enges Tal, das sich wie ein V in die kargen Berge schnitt, und an dessen Ausgang in der Ferne das Meer schimmerte. Die Jungen setzten sich auf eine Mauer am Straßenrand und verzehrten Tomaten und Stangenbrot. Außer ihnen gab es um diese Uhrzeit kaum Touristen, und so beschlossen sie, zuerst in das Museum zu gehen, um sich das Original der Statuette anzusehen, die sie Tante Kyra mitgenommen hatten.

Als sie den Raum betraten, in dessen Mitte die Figur aufgestellt war, stockte ihnen der Atem. Mehr als 2000 Jahre alt, blickte sie der junge Mann mit funkelnden, lebendigen Augen an. Gefertigt aus schwerem Metall, Bronze, wirkte sein Umhang dennoch so leicht, als würde er sich bei einem Windstoß aufbauschen. Die Zügel in seiner rechten Hand sahen so aus, als stünde er auf seinem antiken Wagen. Der linke Arm bestand nur aus einem Stumpf, was die Figur aber nicht weniger graziös erscheinen ließ. Keiner der beiden hatte erwartet, dass sie so groß war – größer als Tom, und ungefähr gleichgroß wie Nikos. Im Gegensatz zu den vielen nackten Marmorstatuen mit stählernen Muskeln wirkte der Wagenlenker sehr züchtig, gleichzeitig aber auch stark.

Ganz allein mit dem antiken Kunstwerk, flüsterte Nikos:

„This is beautiful, man."

Tom nickte zustimmend. Wie plump und hässlich wirkte dagegen eine teils mit Moos bewachsene, steinerne Statue, die als einziges Denkmal seinen Heimatort zierte, ein grobes Standbild des ersten – und gleichzeitig drittletzten - deutschen Kaisers mit Pickelhaube, Steinbart und toten Augen.

Inzwischen waren die ersten Touristenbusse aus Athen angekommen. Fein säuberlich nach Sprachen sortiert schwirrten Gruppen von Engländern, Amerikanern, Franzosen und Deutschen umher, sodass der wunderbare Ort seinen Zauber verlor.

Die Jungen verließen das Museum und kletterten durch die Ruinen am Hang hinauf zu dem antiken Theater, das sich an die Flanke des Berges schmiegte. Schwitzend erklommen sie die stufigen Sitzreihen, um sich auf der am höchsten gelegenen niederzulassen. Den anderen Touristen, oftmals mit Sandalen an den Füßen, war dieser Aufstieg zu mühsam, und so waren sie trotz der vielen Menschen hier allein.

Ein schwacher Wind wehte vom Meer das Tal herauf, was die Hitze des Mittags erträglich machte. Schweigend ließen sie die Blicke schweifen, und Tom musste seinem Freund erneut zugestehen, dass er recht hatte, als er die Vorliebe seiner Vorfahren bei der Auswahl der Standorte für ihre Kultstätten lobte. Auch ohne die Reste der antiken Tempel wäre diese Landschaft grandios gewesen.

Nikos kramte eine Zigarettenschachtel aus seiner Tasche.

„Weißt Du eigentlich, wie die Pythia zu ihren Orakelsprüchen gekommen ist?"

Tom hatte im Lateinunterricht etwas von Gasen gehört, die aus dem Felsen aufstiegen und die Sinne der Priesterinnen auf Trab brachten. Nikos hatte eine ganz eigene Theorie, und er hatte sich vorgenommen, sie experimentell zu überprüfen.

Er nestelte eine offensichtlich selbst gedrehte Zigarette aus der Schachtel. Tom hatte so etwas schon bei den älteren Schülern an seinem Gymnasium gesehen und wusste, dass in dieser Zigarette nicht nur Tabak war, sondern auch Teile einer anderen Pflanze. Im Hohenberger Freibad gab es eine Ecke, in der meist langhaarige Jungen zusammenhockten und diese Zigaretten rauchten, deren Qualm irgendwie süßlich roch. Trotz seiner Neugier hatte er sich bisher davon ferngehalten.

Er wies Nikos auf seine Bedenken hin, doch der versicherte ihm, dass dieses Kraut, Marihuana genannt, nicht süchtig machte, dafür aber die Sinne erweitern sollte. Er hatte etwas von einem Cousin bekommen, der ein paar dieser Pflanzen im Garten hinter seinem Elternhaus gesetzt hatte.

„Okay, dann lass uns mal testen, ob wir auch Visionen bekommen." Tom versuchte, seine Nervosität mit betont lässigem Verhalten zu überspielen, doch das leichte Beben in seiner Stimme blieb seinem Freund durchaus nicht verborgen.

Nikos entzündete die Zigarette und nahm einen tiefen Zug. Lange behielt er den Rauch in der Lunge. Mit einem kurzen, etwas erstickten Husten atmete er aus, und Tom wurde von dem eigenartigen Qualm eingenebelt.

„Du musst den Rauch drinbehalten, bis es weh tut," riet Nikos seinem Orakelkollegen und nahm einen weiteren, tiefen Zug. Dann reichte er Tom den Joint. Der zog ganz vorsichtig und musste sofort husten, als er versuchte zu inhalieren. Sein Hals kratzte.

„Versuch's noch mal. Halt einfach die Luft an."

Nikos schien ein echter Experte zu sein. Der zweite Zug schaffte den Weg in seine Lunge, und wie empfohlen hielt er den Rauch, bis ein Hustenreiz ihn zum Ausatmen zwang. Er reichte die Zigarette an seinen Freund zurück.

Tom horchte in sich hinein, er sah sich um, er lauschte, aber nichts, absolut nichts passierte. Nikos streckte sich auf der steinernen Sitzstufe aus und nahm zwei weitere Züge. Dann gab er Tom den Joint, der auch noch zweimal zog, sich prompt am Ende die Finger verbrannte und den Stummel wegschnipste.

Der Himmel war immer noch oben, das Theater zu seinen Füßen. Alles war, wie es immer war. Er folgte dem Beispiel seines Freundes und legte sich auf die Steine, Kopf an Kopf mit Nikos.

„You like it, gangster?" fragte Nikos, während er in den blauen Himmel schaute.

Tom musste überlegen, was er sagen sollte. Er spürte rein gar nichts, aber sollte er das zugeben? Sein gesamtes Sichtfeld wurde von dem sonnenbrillengedämpften Blau des Himmels eingenommen, an dem nur wenige weiße Wolkenhäufchen schwebten. Das Zirpen der Grillen war das einzige Geräusch. Alles war wie immer. Er rang sich durch, Nikos die Wahrheit zu gestehen.

„Bei mir wirkt das nicht. Ich merke gar nichts."

Die richtigen Leute Band 1: Die grüne LeuchtschriftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt