39 Er wäre für mich ins Gefängnis gegangen

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Tom lief wie ein Roboter durch die Straßen Athens. Der vorletzte Tag seines Urlaubs war genau genommen der erste, an dem er allein und wie ein ganz normaler Tourist unterwegs war. Die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, erwies sich als äußerst schwierig. Nachdem er daheim nur ausgesuchte Episoden würde erzählen können, wollte er seinen Verwandten wenigstens nicht irgendein Allerwelts-Souvenir mitbringen, sondern etwas, das die Abenteuer und Gefühle seiner vier Wochen in Griechenland symbolisierte. Je länger er nachgrübelte, wem er was mitbringen sollte, umso weniger konnte er sich vorstellen, was seinen Ansprüchen gerecht werden könnte.

Er selbst hatte zwei Andenken. Das eine war sein Tagebuch. Er hatte es beinahe täglich mit knappen Einträgen aktualisiert und einige Male auf mehreren Seiten Gespräche mit seinen Freunden zusammengefasst. Am Vormittag nahm er seine letzten Eintragungen vor und notierte Adressen und Telefonnummern, die er auf vielen einzelnen Zetteln gesammelt hatte, auf den letzten beiden Seiten des Heftchens. Das zweite war eine kleine Holzschachtel, in der er einige wenige Sachen verstaute: eine Seeigel-Karkasse aus Mykonos, je ein Steinchen aus Korinth und Delphi, einen Faden von einem Fischernetz aus Salamis und eine Schachtel selbstzündender Streichhölzer mit einem Bild des Parthenon-Tempels.

Er besuchte den Flohmarkt in Monastiraki, begutachtete dieses und jenes und entschied sich schließlich, für seine Oma eine kleine Steingut-Amphore zu kaufen. Für seine Eltern hatte er erst eine Idee, als er an einem Brautladen vorbeikam. Im Fenster waren die typischen Zuckermandeln ausgestellt, die es am Hochzeitstag gab. Spontan kaufte er ein Pfund, das die Verkäuferin in ein Gazesäckchen füllte, welches in eine edle Pappschachtel gesteckt wurde. Ein etwas hinterlistiges Mitbringsel, wie er fand. Für seine Eltern war das nur eine leckere Knabberei – beide liebten Mandeln in jeder Form. Für ihn selbst verband sich dieses Geschenk mit der Erinnerung an seinen schlimmsten, aber irgendwie auch schönsten Tag.

Er besuchte das Nationalmuseum und sah sich verschiedene Ruinen an, aber er hätte sich genauso gut mit verbundenen Augen in ein Straßencafé setzen können oder an einem einsamen Strand den Wellen lauschen: sein Körper bewegte sich durch die Antiquitäten, aber sein Geist war überall und nirgends.

„Wir brechen das ab," entschied der Geheimpolizist, nachdem ihm Toms Schatten eine lange Liste von Sehenswürdigkeiten und Geschäften vorgelesen hatte. Er schickte seine Untergebenen nach Hause und überlegte. Die Freundin des Deutschen, Sophia, die Tochter eines Ex-Marinemajors, und ihr Bruder Georgios könnten auch zu der Gruppe gehören. Nicht auszuschließen, dass sie auch für Kurieraufträge eingesetzt wurden. Man sollte sie hin und wieder begleiten.

Er nahm ein paar neutrale Briefbögen aus der Schublade und fasste auf Deutsch seine Erkenntnisse über Tom zusammen. Dann faltete er die drei Seiten sorgfältig und steckte sie mit einigen anderen Papieren in einen braunen Umschlag. Er rief einen Blumenladen an und bestellte 10 rosa Nelken für seine Frau. Wenig später tauschte ein Bote den Blumenstrauß gegen den Umschlag ein. Er griff zum Telefon und rief seinen Fahrer an.

„Ja, holst Du mich bitte morgen um sechs zuhause ab? Wir fahren nach Piräus und zum Flughafen. Du schreibst kein Protokoll."

Selbst als Tom im Bett lag, gelang es ihm nicht, einen Gedanken festzuhalten oder sogar zu Ende zu denken. Er wusste, er würde am nächsten Morgen noch einmal Nikos treffen, aber er hatte nicht die geringste Idee, wie sie den Tag verbringen sollten. Er wusste auch, dass er abends viele seiner Freunde bei dem Essen in Rafina wiedersehen würde. Er wusste, dass er tags darauf morgens um elf ein Flugzeug besteigen würde. Er hatte überhaupt keine Vorstellung von der Zeit danach, in Hohenberg, 2000 km weit von Athen, von Sophia und Nikos.

Am Morgen saßen Tom und Nikos auf dem Balkon, zwei Becher mit Nescafé und einen großen Teller mit süßem Gebäck vor sich. Die Masten der Segelboote im Yachthafen schaukelten im Wind. Die Sonne ließ die Häuser blendend weiß erscheinen. Das Gespräch verlief zäh. Nikos gähnte immer wieder.

Die richtigen Leute Band 1: Die grüne LeuchtschriftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt