37 Ängste

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Eine leichte Brise wehte vom Meer durch die Straßenschluchten der Stadt. Schon vor neun Uhr bummelte Tom durch Piräus. Er liebte diese Zeit, wenn das Leben erwacht. Die Großstadt faszinierte ihn, alles war anders als in Hohenberg, abenteuerlicher, spannender. Er fühlte sich fast schon zuhause.

In der U-Bahn ließ er seinen Gedanken freien Lauf. Wie immer in den ratternden Waggons fiel er in einen Halbschlaf, ein angenehmes Gefühl, das ruhig noch eine Stunde hätte andauern dürfen. Fast widerwillig riss er sich aus seinen Tagträumen, als die Bahn in Monastiraki ankam. Mit Sophia und Georgios, die ihn bereits erwarteten, ging er zum Busbahnhof. Georgios stellte sich in die Schlange vor einem der Ticketschalter.

Tom schlenderte mit Sophia an der Hand zu den fliegenden Händlern und kaufte Zigaretten und Streichhölzer bei dem Mann auf dem Rollbrett. Sophia gab ihm ein paar Münzen extra.

„Danke. Gute Reise, Ihr Hübschen. Wo geht's denn hin?"

„Wir besuchen einen Freund in Agios Andreas." Sophia deutete auf das Rollbrett. „Was ist passiert?"

„Ich hab mit meinem Bruder die Schafe gehütet. Ich war sechs, er acht. Da war eine Mine. Ich lebe, er nicht."

Sophia übersetzte. Tom wurde von einem Gemisch aus Wut, Trauer und Mitleid überwältigt. Er nahm einen 100-Drachmen-Schein aus dem Portemonnaie, und als er ihn dem jungen Mann gab, kam auch noch Scham hinzu.

Fast war er froh, dass der Bus nur im Schritttempo vorankam. Es dauerte eine stumme halbe Stunde, bis er dieses kurze Zusammentreffen verdrängen konnte. Der Duft seiner Freundin, die sich unmerklich an ihn schmiegte, erinnerte ihn daran, dass sie eigentlich unterwegs waren, um Spaß zu haben. Er fühlte sich schlecht dabei.

Nikos hatte sich redlich Mühe gegeben, für ihren letzten gemeinsamen Tag noch ein Highlight zu setzen. Kaum waren die drei am Haus seines Onkels angekommen, als er ihnen auch schon ein Paar Wasserski präsentierte, die er einem entfernten Verwandten für einen Tag abgeluchst hatte. Jannis hatte obendrein ein Schlauchboot mit einem ziemlich starken, amerikanischen Außenbordmotor besorgt. Sophia war wenig begeistert. Sie befürchtete, dass die Jungen wohl den ganzen Tag auf dem Wasser verbringen würden. Ihre Überredungsversuche, es auch zu probieren, blockte sie dankend ab.

Tom und Nikos führten Georgios in die Geheimnisse des Wasserskilaufens ein. Jannis kletterte in das Boot, paddelte einige Meter hinaus, und Nikos hockte sich auf den Skiern ins Wasser. Jannis warf den Motor an, fuhr langsam los, und als sich das Seil straffte, gab er Gas. Nikos war auf den Zug des Bootes nicht vorbereitet – es war viel schneller als Basilis' Kahn. Prompt landete er im Wasser, was Sophia zu einem spöttischen Applaus veranlasste. Georgios wurde ganz still.

Im zweiten Anlauf klappte der Start, und in rasanten Bögen preschte Nikos durch die Bucht. Inzwischen hatte sich die Dorfjugend von Agios Andreas vollständig am Strand versammelt, und als Nikos den Holzgriff nur noch mit einer Hand festhielt und mit der anderen winkte, brach anerkennender Jubel aus.

Tom und die Geschwister setzten sich unterdessen in den Sand und erzählten von ihren Erlebnissen der letzten Tage. Sophia war zuhause besonders lieb und half ihrer Mutter, wann immer sie konnte. Immerhin ließ sie es im Gegensatz zu ihrem Mann stillschweigend durchgehen, dass sich Sophia und Tom weiterhin trafen.

Dann war die Reihe an Tom, der durch Nikos' Missgeschick vorgewarnt war und daher gleich beim ersten Mal einen Traumstart hinlegte. So machte Wasserski wirklich mehr Spaß. Auf Mykonos waren sie immer knapp davor, wegen zu geringer Geschwindigkeit unterzugehen. Hinter diesem Boot flog man regelrecht über das Wasser. Schließlich durfte Georgios sein Talent beweisen, und nach einigen Fehlversuchen blieb auch er auf den Brettern stehen.

Die richtigen Leute Band 1: Die grüne LeuchtschriftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt