5 Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft

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Georgios begleitete ihn nach Hause, denn er wollte ihn zu dem Treffpunkt mit seinem Namensvetter, dem Taxifahrer, bringen, natürlich überhaupt nicht aus Neugier, sondern aus reiner Freundlichkeit. Während die beiden auf dem Balkon saßen, fragte er völlig unvermittelt:

„Tom, are you democrat?"

So spannend er die letzten Tage mit ihren ständigen politischen Gesprächen gefunden hatte, so sehr hatte er sich gefreut, einen unbeschwerten Tag mit einem immer fröhlichen und anscheinend an Politik nicht im Mindesten interessierten Jungen zu verbringen. Und nun das.

Tom sprach ein umfassendes Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung aus. Das fiel ein wenig ironisch aus, was Georgios zum Glück nicht bemerkte. In dem Griechen tobte ein fast unauflöslicher Loyalitätskonflikt. Seine Familie gehörte zu den Königstreuen, und das trotz der Gerüchte, dass der König nicht ganz unschuldig an dem Umsturz in Griechenland war, dessen Opfer er dann wurde. Andererseits müsste er seiner Schwester Sophia recht geben, so sagte er. Sie vertrat den Standpunkt der Demokraten: dass die Macht vom Volk ausgeübt werden sollte, weder von einem König noch von einer Diktatur.

Tom hatte das Gefühl, dass der junge König Konstantinos neben einem guten Aussehen und gewissen Erfolgen als Sportler politisch wenig zu bieten hatte, ein Eindruck, der sich bestätigte, als er in einem späteren Leben als Freiherr wiedergeboren wurde und in Deutschland kurzfristig einige Ministerposten innehatte, eine Karriere, die wie beim ersten Mal in Griechenland eher kurz war.

Aber auch die in einer Dauerfehde verhafteten sozialistischen und konservativen Politiker hatten es seit dem Ende des Bürgerkrieges nicht geschafft, das Land zu vereinen und den Menschen Fortschritte wie in Mitteleuropa zu ermöglichen. Ihr einziger Erfolg bestand darin, den USA für die Ausnahmestellung Griechenlands als einziges westlich orientiertes Land auf dem Balkan horrende Zahlungen, getarnt als Stationierungskosten für die Mittelmeerflotte, abzuknöpfen, was die dramatisch schlechte wirtschaftliche Lage des Landes vertuschte.

Sich in diesem Geflecht, das auch noch die Zutaten diverser kommunistischer, nationalistischer, anarchistischer und sonstiger Gruppen und Grüppchen enthielt, auszukennen und womöglich festzulegen, dazu reichte Toms Wissen nicht aus.

So machte er es ausnahmsweise so, wie es sonst die Politiker immer tun: Er äußerte ein entschiedenes „sowohl als auch". Dass es nicht rechtens gewesen sei, den König zu vertreiben, dass es aber schon gar nicht rechtens sei, eine Diktatur auszuüben. Georgios war mit dieser Antwort nicht zufrieden, aber sie vertagten eine weitere Diskussion. Er wurde Zeit, zu dem Treffpunkt mit Georgios, dem Taxifahrer, aufzubrechen.

Tom suchte mit den Augen den Taxistand auf der anderen Straßenseite ab. Als er Jannis fragte, woran er das Auto seines Bruders erkennen würde, weil ja schließlich alle Taxis grau waren, meinte der nur, sein Bruder würde ihn erkennen, nicht ohne den Seitenhieb hinzuzufügen, einen wie Tom gäbe es in Athen nur einmal.

In diesem Augenblick flog die linke hintere Tür des letzten wartenden Taxis auf. Ein hochgewachsener Junge mit wilden schwarzen Locken sprang heraus, rief einige unverständliche Worte in Toms Richtung und bedeutete ihm mit heftigen Gesten, wegzurennen. Gedankenfetzen jagten durch Toms Gehirn. Er verfluchte seinen Leichtsinn in der U-Bahn: „Hättest Du doch bloß keinen Theodorakis gesummt!"

Schon sah er Agenten an Jannis' Tür klopfen. Irgendjemand musste ihr Gespräch belauscht haben. Er wünschte, Christina wäre da und könnte ihm sagen, in welche Richtung er nun flüchten sollte. Er ging einige Schritte rückwärts, wie um etwas mehr Abstand zwischen sich und dem gestikulierenden Jungen herzustellen, und wollte gerade losrennen, als Georgios ihn am Arm festhielt:

„Was ist los mit Dir?"

„Das muss Nikos sein, der Sohn von dem Taxifahrer. Irgendwas ist passiert. Komm, wir müssen weg!"

Georgios lachte hemmungslos und hüpfte mal wieder vor Vergnügen. Dann erklärte er Tom, dass die Geste, die auf der ganzen Welt bedeutet, man solle weglaufen, in Griechenland genau das Gegenteil hieß: Komm her!

„Kein Wunder," dachte Tom, „dass in diesem Land alles drunter und drüber geht. Wie soll das funktionieren, wenn „Nä"Ja" und „renn weg" „komm her" heißt. Fehlt nur noch, dass die mit dem Kopf nicken, wenn sie nein meinen."

Er verabschiedete sich von Georgios, der ihm noch sagte, er wollte nun doch am nächsten Tag mit ins Strandbad kommen, und zwar, wie er großzügig erläuterte, damit Tom nicht allein mit den ganzen „verrückten Hühnern" ans Meer fahren müsste.

Tom ging zur Fußgängerampel an der Kreuzung und wartete, bis sie auf rot sprang. Dann flitzte er zwischen den anfahrenden, hupenden Autos hindurch, klopfte sich, heil auf der anderen Seite angekommen, selbst auf die Schulter und war stolz, schon am dritten Tag fast ein echter Grieche geworden zu sein.

Stephanos hatte auf dem Weg vom Flughafen nach Piräus jede rote Ampel zunächst mit einem zwischen den Schneidezähnen hervorgepressten „Tzzzz" verächtlicht und dann natürlich überfahren. Er erklärte Tom, Ampeln würden in Griechenland nur für Touristen aufgestellt. Der Grieche als bekanntermaßen bester Autofahrer der Welt sei auf solch störende Einrichtungen wie Ampeln oder Verkehrsschilder nicht angewiesen und würde sie deswegen einfach ignorieren.

Bei seinem ersten Ampelsprint, der natürlich vor allem seine neuen Freunde beeindrucken sollte, stellte er erleichtert fest, dass Stephanos recht hatte: griechische Autofahrer begleiteten anarchisches bis selbstmörderisches Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer zwar mit lauten Geräuschen, bewegten aber dennoch ihren Fuß zur Bremse.

Nikos kam ihm auf dem blank polierten Bürgersteig entgegengelaufen, ein schlaksiger Junge von 1,80, der in seiner angeschmuddelten grauen Hose und dem blauen Baumwollhemd so aussah, als hätte er gerade noch auf einer Baustelle gearbeitet. Tatsächlich half er Jannis, eine Gartenmauer zu bauen. Er rannte lachend auf Tom zu, boxte ihn gegen die Brust und sagte mit einer tiefen Stimme, die gar nicht zu seiner Erscheinung zu passen schien, in fast akzentfreiem Deutsch:

„Hey, Du Gangster! Wie geht's? Heute schon gevögelt, oder nur in der U-Bahn gesungen?"

Tom war von seinem Jungengymnasium einen rauen Ton gewohnt:

„Heute erst zweimal, aber gestern war gut."

Viel später, als sie über diese Szene lachten, erklärte ihm Nikos, dass er nach wenigen Wochen Deutschunterricht ein paar Jerry-Cotton-Heftchen und bunte, besser gesagt überwiegend fleischfarbene Magazine am Strand gefunden und sie als erste deutsche Literatur Abend für Abend gelesen hatte. Das prägt.

„Willkommen in Griechenland," strahlte Nikos ihn an, umarmte ihn und setzte ihm einen schmatzenden Kuss auf jede Wange. Tom strahlte zurück. Er hatte schlagartig das Gefühl, den Beginn einer wunderbaren Freundschaft zu erleben.

„Ich fasse mal zusammen" sagte der Geheimpolizist zu seinen Untergebenen. „Unser junger deutscher Freund trifft sich, kaum dass er hier ist, mit Leuten vom Widerstand. Und mit dem Sohn eines royalistischen U-Boot-Kommandanten, der sich direkt nach der Machtübernahme hat pensionieren lassen. Lernt „ganz zufällig" jemanden in der U-Bahn kennen und palavert zwei geschlagene Stunden mit ihm. Riskiert, überfahren zu werden, um Euch abzuhängen und steigt in ein Taxi, das nur auf ihn gewartet hat. Wir bleiben an ihm dran. Wer weiß, wohin er uns führt."

Der Polizist schüttelte den Kopf. Setzten die Sozialisten jetzt etwa schon minderjährige Touristen als Kuriere ein?

Die richtigen Leute Band 1: Die grüne LeuchtschriftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt