Am nächsten Morgen stand Tom schon um acht auf, weil er einen Ausflug zum Kanal von Korinth machen wollte. Er hatte zwar vor seiner Reise nur vage Vorstellungen davon, was genau er in Griechenland eigentlich alles unternehmen wollte, aber den Kanal musste er unbedingt sehen. Der Tag bot sich für diesen Ausflug an, denn es gab keine Verabredungen mit den neuen Freunden, und er hatte von Christina erfahren, dass es sehr einfach war, mit dem Bus nach Korinth zu gelangen.
Als er seine Tasche für den Ausflug packen wollte, fiel ihm auf, dass sein Pass nicht – wie sonst immer – neben seinem Brustbeutel auf dem Bücherregal lag. Natürlich war er am Vorabend sehr müde gewesen, sodass er wahrscheinlich seine Sachen nicht wie üblich dort abgelegt hatte.
Er durchsuchte seine Hose, aber die Gesäßtasche, wo er den Pass immer bei sich trug, weil er nicht in den Brustbeutel passte, war leer. Der Ausweis blieb verschwunden. Er fragte Christina, ob sie ihn vielleicht gesehen hätte, aber auch ihr war er nicht aufgefallen. Gemeinsam suchten sie die ganze Wohnung ab, doch der Pass tauchte nicht auf.
Obwohl Christina längst auf dem Weg zur Arbeit sein sollte, versuchten sie zu rekonstruieren, wo der Ausweis verloren gegangen sein könnte. Am wahrscheinlichsten erschien ihnen, dass er das Dokument am Strand verloren hatte. Sie telefonierte mit ihrer Kanzlei und teilte der Sekretärin mit, sie würde zwei Stunden später zur Arbeit erscheinen. Dann begleitete sie Tom zur nächsten Polizeistation.
Am Ende des Jachthafens gab es eine kleine Wache der Touristenpolizei, die sich um die Wehwehchen von Urlaubern kümmerte. Christina schilderte dem in eine schmucke, weiße Uniform gekleideten Polizisten Toms Missgeschick, und nach einigen Rückfragen, die der Beamte in makellosem Englisch an Tom richtete, griff er zum Telefon und holte sich anscheinend von einem Vorgesetzten Anweisungen.
Das Telefongespräch wirkte zunehmend angespannt, und jegliche Freundlichkeit wich aus dem eben noch hilfsbereiten Polizisten, als er – Christina in fast beleidigender Weise ignorierend – Tom kurz und knapp mitteilte, er müsste zur normalen Polizeiwache gehen, um dort eine Anzeige zu machen und ein Protokoll aufnehmen zu lassen. Christina lieferte sich mit dem Beamten einen hitzigen Wortwechsel, aber der hatte anscheinend eine eindeutige Order bekommen.
„Was hat das alles zu bedeuten," fragte Tom, als sie das Gebäude verlassen hatten.
„Ach, weißt Du," versuchte Christina ihn zu beruhigen, „die Touristenpolizei ist eigentlich gar keine richtige Polizei, mehr so eine Art Kindermädchenangebot für verunsicherte Urlauber. Es gibt sie noch nicht lange, wahrscheinlich wissen die mit manchen Problemen noch nicht umzugehen."
Sie fanden die zuständige Wache einige Straßen weiter in einem würfelförmigen, braunen, zweistöckigen Gebäude mit vergitterten Fenstern und einer offen stehenden Eingangstür. Auf dem Bürgersteig vor der Wache saßen hinter mehreren Holztischen Männer, die Formulare ausfüllten oder Texte schrieben, die ihnen diktiert wurden. Tom, der die Selbstsicherheit der vergangenen Tage vergeblich suchte, konnte sich den Anblick nicht erklären, aber er hatte andere Sorgen, als Christina zu fragen, was die Menschen dort trieben.
In dem stickigen Amtszimmer standen nur zwei Schreibtische, hinter denen je ein Beamter saß. Kaum hatte Christina ihr Anliegen vorgetragen, als aus dem Nebenzimmer ein unglaublich dicker Polizist trat, dessen enorme Schwitzflecken unter den Achseln und sein fettiges, gelocktes Haar mit einem von Narben übersäten Gesicht konkurrierten, um auf die „Kunden" möglichst einschüchternd zu wirken. Mit knappen Worten und in befehlsmäßigem Ton bugsierte er Tom und Christina in den Nebenraum, wo er eine lange, nicht freundlich klingende Rede hielt. Tom wurde es zunehmend mulmig, denn dass das hier nicht glatt ablief, war deutlich zu spüren.
Christina übersetzte den Vortrag des unangenehmen Beamten:
„Wir müssen draußen ein Protokoll schreiben lassen. Damit sollen wir dann zum Büro der Fremdenpolizei. Die darf man nicht mit der Touristenpolizei verwechseln. Die Fremdenpolizei gibt es schon lange. Sie hat keinen guten Ruf. Meistens haben sie es mit betrunkenen Seeleuten zu tun, die etwas gestohlen oder sich geprügelt haben. Die sperren sie dann erst mal ein paar Tage ein. Das dürfen sie, auch ohne Gericht."
Sie begaben sich zu einem der Tische. Dort ließ Christina das Protokoll schreiben, wobei Tom sich fragte, wieso dafür eigens private Schreiber benötigt wurden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Polizisten vielleicht nicht alle schreiben konnten. Der Mann füllte zwei Seiten und gab Christina das Protokoll, mit dem sie zurück in die Wache gingen. Dort musste sie einen kleinen Betrag bezahlen, wofür zwei Marken auf das Schriftstück geklebt wurden, die wiederum von dem unangenehmen, dicken Beamten im Nebenzimmer abgestempelt wurden. „Die Griechen haben also nicht nur die Demokratie erfunden," dachte Tom, „sondern anscheinend auch die Bürokratie." Unterwegs rief Christina noch einmal in ihrer Kanzlei an. Die zwei Stunden waren längst vorbei, und ein Ende ihres Behördenmarathons noch immer nicht absehbar.
Die Wache der Fremdenpolizei war an der Hauptzufahrtstraße zum Handelshafen, ein Fußweg von knapp einer Viertelstunde. Der Besuch dort war kurz, viel kürzer, als Tom es erwartet hatte. Der Zivilbeamte, zu dem sie vorgelassen wurden, erklärte ihm auf Englisch, dass er in zwei Stunden in einem Polizeibüro am Athener Syntagmaplatz sein müsste. Er fügte knurrend hinzu, dass er ruhig allein hingehen sollte, denn nur er, und nicht Christina, sollte dort verhört werden. Er beantwortete keine Nachfrage, sondern komplimentierte sie unhöflich zur Tür.
Der Geheimpolizist betrachtete das Foto des deutschen Jungen, wie er Christinas Haus betrat. Manchmal musste man einfach Glück haben. Sein Pass war also weg, welch ein Zufall. Nun würde der Deutsche ganz „freiwillig" zu ihm kommen, der was auch immer mit der Widerstandsgruppe zu tun hatte, die sich bei der Anwältin traf. Die alten Männer interessierten ihn nicht, er hatte sie durch den Hausarrest ohnehin unter Kontrolle. Aber er hoffte, sie würden ihn zu der Gruppe von Elitesoldaten führen, die seit ihrer Flucht untergetaucht waren. Diesen Tom hatte er anfangs für Verwandtschaftsbesuch gehalten, aber sein Verhalten machte ihn stutzig. Warum lief der Junge an Christinas Haus vorbei und ging erst hinein, nachdem er sich vergewisserte, dass ihm niemand folgte? Noch ein Zufall?
Auf der Fahrt nach Athen war die Stimmung angespannt. Tom fragte sich, warum ein verlorener Ausweis nun schon einen halben Tag kostete. Er war verunsichert, weil die Beamten von einem Revier zum nächsten unfreundlicher geworden waren. Christina wirkte wieder ruhig, doch die Art und Weise, wie sie über die Polizei schimpfte, ließ erkennen, dass ihr der Verlauf des Vormittags ziemlich gegen den Strich ging.
Das Gebäude, in dem sie sich melden sollten, befand sich in einer schmalen Einbahnstraße keine 200 m vom Syntagmaplatz entfernt. Das fünfstöckige, moderne Haus sah aus wie viele der in den letzten Jahren errichteten Bürogebäude. Am Eingang fanden sich etliche Metallschilder mit Firmennamen. Dass hier eine Polizeibehörde untergebracht war, war außen nicht ersichtlich. Christina mutmaßte, es müsste sich um ein Büro der Kriminalpolizei handeln. Im Eingangsbereich thronte eine junge Frau hinter einem gewaltigen Tresen und bediente eine umfangreiche Telefonanlage.
Als Christina sich vorstellte, führte sie ein kurzes Telefongespräch. Wenig später holte ein junger, zivil gekleideter Mann Tom ab. Christina wollte ihn begleiten, wurde aber barsch aufgefordert, im Foyer zu bleiben. Der Beamte geleitete ihn in einen langen Gang, auf dessen rechter Seite sich zwei Fahrstuhltüren befanden. Mit dem Lift fuhren sie in den 4. Stock. Dort war ein identischer Flur mit etlichen Türen, die alle geschlossen waren. Es war totenstill.
Die letzte Tür auf der linken Seite öffnete sich, und ein hochgewachsener Mann mit einer waffenscheinpflichtigen Hakennase winkte Tom zu sich. Er trug einen grauen Anzug und schwarze Schuhe. Während er sich hinter seinen riesigen, dunklen Schreibtisch bewegte, zog er das Jackett aus und hängte es auf die Lehne seines lederbezogenen Armsessels.
Er bedeutete Tom, Platz zu nehmen. Der Raum war groß, hatte aber nur ein kleines, vergittertes Fenster, und neben ein paar Rollschränken und einem ebenfalls lederbezogenen Besucherstuhl gab es keine weiteren Einrichtungsgegenstände. An einer Wand hing das Foto eines Militärs mit einer umfangreichen Sammlung von Orden auf der Brust, wahrscheinlich der derzeitige „Vizekönig", wie Tom vermutete. Die Tür war auf der Innenseite dick wattiert, daher die Stille auf dem Gang.
Zu Toms Überraschung sprach ihn der Mann in fließendem Deutsch an, wobei ihn die Aussprache an die Reden des DDR-Chefs Ulbricht erinnerte. Der Polizist hatte zwar nicht dessen eigenartige Fistelstimme, sondern eher einen volltönenden Bariton, aber er sprach eindeutig sächsisch. Der Mann nannte ihn „junger Freund" und bot ihm Kaffee an, den Tom dankbar annahm, vor allem wegen des Wassers, das selbst hier dazu gereicht wurde. Sein Mund war staubtrocken. Nicht, weil er einfach durstig war. Tom hatte Angst.
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Die richtigen Leute Band 1: Die grüne Leuchtschrift
Historical Fiction„Die grüne Leuchtschrift" ist der erste von 20 Bänden meiner Buchreihe „Die richtigen Leute". Tom, ein 15-jähriger Deutscher, verbringt die Sommerferien im Jahr 1969 in Griechenland, wo eine Militärdiktatur herrscht. Kaum angekommen, lernt er im Hau...