19 Unser schönes Europa

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Mit weichen Knien und hängenden Schultern schleppte sich Tom nach Hause. Die wenigen hundert Meter wurden zur Marathonstrecke. „Wie kann man nur so blöd sein," schrie es ihn pausenlos an. Er malte sich aus, was seine Freundin nun erleiden musste. Sophia hatte ihm zwar gerade erst gesagt, dass ihr Vater sie – im Gegensatz zu vielen anderen Vätern – niemals schlug, auch nicht, als ihre Treffen mit ihrem ersten Freund aufflogen. Aber er konnte sich lebhaft vorstellen, dass sie nicht mehr viel Sonne sehen würde in diesem Sommer.

Ohne auf parkende Autos zu achten, betrat er das Haus und ging diesmal auch die Treppen zu Fuß, um sein Zusammentreffen mit Christina noch etwas hinauszuzögern. Seine größte Sorge war, dass Sophias Vater schon angerufen hatte, was aber nicht der Fall war. Er gesellte sich zu Christina, die in der Küche werkelte, und begutachtete den Inhalt der Töpfe. In einem schmorten Fleischstücke in einer rötlichen Sauce, im anderen köchelte ein grünes Gemüse, Spinat.

Es gab nicht viel, das Tom nicht aß, aber Spinat gehörte dazu. Die übliche Variante, deren Farbe und Konsistenz nur vergleichbar war mit einem gerade zur Welt gebrachten Kuhfladen, in den man mit nackten Füßen trat (eine weitere Erfahrung, die Dorfjugendliche ihren Stadtkollegen voraus hatten), gehörte zu den wenigen Dingen, die er nicht freiwillig zu sich nahm. Christinas Blattspinat mit Knoblauch und Zitrone versöhnte ihn für den Rest seines Lebens mit Kuhfladen.

„Was hast Du denn so mit Deinem Freund gemacht?"

„Ach, wir waren nur ein bisschen am Theater und im Park."

So wenig Lügen wie möglich, dachte sich Tom.

„Dann wart Ihr ja wenigstens nicht allein, Dein Freund und Du."

Christina konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, während sie in den Töpfen herumrührte. Tom war sein schlechtes Gewissen nur zu deutlich anzusehen. Beim Abendessen war dann die Beichte angesagt. Tom wollte Christina nicht mehr belügen und gab zu, mit Sophia zusammen gewesen zu sein. Seine flüchtige Begegnung mit ihrem Vater erwähnte er allerdings nicht – zu viel Ehrlichkeit war manchmal auch nicht die Lösung. Christina ihrerseits räumte ein, Stephanos hätte die Idee mit dem Mykonosbesuch in erster Linie gehabt, um Tom für eine gewisse Zeit aus der Großstadt zu verbannen. Er wollte einfach weitere Probleme vermeiden.

Tom beschäftigte nicht erst seit seinem Gespräch mit Nikos auf der Festung eine Frage:

„Ich kenne nur Leute, die die Diktatur ablehnen, trotz der Propaganda und der Macht der Geheimpolizei. Was glaubst Du, wie lange sich die Junta halten kann?"

„Wie lange regiert Franco schon in Spanien? Wie lange sind die Faschisten in Portugal an der Macht? Und glaubst Du, die Russen werden jemals Osteuropa aufgeben? Wenn die Länder demokratisch würden, wären die Russen aus dem Spiel. Das werden sie nie zulassen. Du weißt doch, was letztes Jahr in Prag passiert ist. Und Jugoslawien. Ist das Freiheit? Tito steckt seine Gegner genauso ins Gefängnis wie unsere Obristen. Die Türkei ist praktisch eine Militärdiktatur. Jetzt zähl mal durch. Wie viele Diktaturen gibt es in Europa, und wie viele Demokratien?"

Tom ging Land für Land durch. Ungläubig wiederholte er seine Zählung, doch das Ergebnis blieb: fast die Hälfte aller größeren europäischen Länder hatten diktatorische Regimes.

„Ziemlich zivilisiert, unser schönes Europa." Christinas Ton war bitter. „Und glaube nicht, die demokratischen Länder würden irgendetwas dagegen tun. Haben die Amerikaner etwa die Tschechen unterstützt? Sie haben ihnen versprochen, „macht Ihr mal Revolution, wir helfen Euch dann," und als die russischen Panzer kamen, standen die Tschechen alleine da."

Toms Bild von seinem Heimatkontinent bekam Risse. Er hatte die Demokratie, die freie politische Diskussion, die Verlässlichkeit des Rechtsstaats in Deutschland als selbstverständlich angesehen, obwohl er natürlich wusste, dass auch dort dieser Zustand erst seit 20 Jahren herrschte, und das auch nur in der westlichen Hälfte. Das Aufbegehren der Studenten bewirkte in erstaunlich kurzer Zeit Reformen der westdeutschen Gesellschaft in Richtung einer weiteren Demokratisierung, und zu keiner Zeit hatte er das Gefühl, in seiner Heimat drohte eine wie auch immer geartete Diktatur.

„Die USA, Frankreich, England und Deutschland finden es gar nicht so schlimm, dass Spanien, Portugal und nun auch Griechenland von rechten Diktaturen regiert werden. Schließlich sind das alles Verbündete gegen den Ostblock."

„Das stimmt schon. Aber wenn die Amerikaner den Tschechen geholfen hätten, wäre der dritte Weltkrieg ausgebrochen, und dann wäre von Europa nichts übriggeblieben. Sie hätten sie nur nicht animieren dürfen, in ihr Unheil zu rennen. Letztlich haben sie die Menschen in der Tschechoslowakei nur dazu benutzt, den Russen ein paar Probleme zu machen.

Aber was die rechten Diktaturen angeht, tut sich ja vielleicht doch mal etwas. Ich habe gelesen, dass Willy Brandt und die SPD griechische Oppositionelle unterstützen, Rechtsanwälte bezahlen und so etwas. Wenn auch unser Erlebnis in der deutschen Botschaft genau das Gegenteil sagt, deren oberster Chef derselbe Willy Brandt ist. Eins ist jedenfalls klar: Wenn die Griechen es nicht selbst schaffen, die Diktatur zu besiegen, sehe ich schwarz."

„Ich glaube, wir schaffen das eines Tages," antwortete Christina. „Und das hat drei Gründe. Erstens: Wir halten nicht so viel vom Staat. Der Staat war meistens eine Besatzungsmacht, Widerstand patriotische Pflicht. Als wir 1827 von den Türken unabhängig wurden, mussten wir sogar einen deutschen König mitsamt seiner Verwaltung importieren. Es gab in Griechenland ja überhaupt keine Strukturen.

Heute ist es nicht viel besser. Nach dem Weltkrieg und dem Bürgerkrieg waren wir nur 16 Jahre eine Demokratie. Die Armee hat es ausgenutzt, dass das System nicht so gut funktionierte. Es hatte ja gar keine Zeit, sich zu stabilisieren. Die Politiker haben sich und ihren Freunden die Taschen vollgestopft. Aber ich glaube nicht, dass es der Junta auf die Dauer gelingt, die Griechen für ihre Art von Staat zu gewinnen.

Zweiter Grund: Diese Regierung besteht zu einem großen Teil aus Dummköpfen. Der Putsch ging nicht von der Armeeführung aus, sondern von Bauern, die zu Obristen aufgestiegen und letztlich Marionetten der Amerikaner sind. Die werden nicht schlau genug sein, den Staatsapparat zu beherrschen. Die Armee, den Geheimdienst, die Polizei, das schon. Die Bauern stehen auf ihrer Seite, denen haben sie viel Geld oder Land gegeben. Aber die Wirtschaft, die ganze Verwaltung des Landes, das sind Sachen, die sie nicht können. Wenn sie nicht so viel Geld von außen bekämen, vor allem aus den USA, wäre Griechenland längst bankrott.

Es gibt noch einen Grund. Viele Griechen leben im Ausland. Sie schicken Geld, und wenn sie einmal im Jahr kommen, erzählen sie. Von Freiheit, Demokratie und Reichtum. Und immer mehr Ausländer besuchen Griechenland. Wir sehen, die haben Geld, die sind frei, sie können reisen. Das wollen wir auch. Dieses Regime ist einfach nicht das, was wir verdienen."

Tom hoffte, sie würde recht behalten. Allerdings glaubte er nicht, dass das schnell gehen und einfach werden würde. Spanien und Portugal waren die besten Beispiele. Und der Sicherheitsapparat würde umso effektiver werden, je länger das Regime sich halten konnte.

Als er im Bett lag, ließ er den Tag Revue passieren, mit einem sehr zwiespältigen Ergebnis. Der Pass wieder da, Flucht damit überflüssig, Gefängnis keine Bedrohung mehr, und nun auch noch eine Schiffsreise. Eigentlich hätte es nicht besser laufen können - wenn da nicht seine Begegnung mit Sophias Vater gewesen wäre. Die im schlimmsten Fall seine erste wirkliche große Liebe beenden würde, bevor sie richtig angefangen hatte. Würde er sie jemals wiedersehen?

Die richtigen Leute Band 1: Die grüne LeuchtschriftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt