30 Die Leuchtschrift auf ihrer Stirn

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Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie das Nadelöhr der Gangway erreichten, und die wenigen Meter über den schmalen, hölzernen Steg schienen sich endlos hinzuziehen. Die Jungen drängelten sich durch die Menschentrauben, ohne das Spotlight aus den Augen zu verlieren, in dem das Mädchen aus Piräus wartete. Tom und Sophia fielen sich in die Arme und küssten sich, und auch für Nikos gab es Küsschen auf beide Wangen.

Sophia wollte natürlich alles über ihre Weltreise wissen, und beide sprudelten nur so los, über Piraten, nackte Oxford-Engländer, Wasserskitouren. Sie suchten sich eine Bank am Rand des Hafengeländes und sprachen über Petros, Basilis und Tante Kyra, aber dann ertönte ein Klingeln aus Sophias Tasche. Sie verabschiedete sich hastig, nicht ohne einen Anruf für den nächsten Tag anzukündigen, und rannte nach Hause.

Christina empfing die Jungen mit einem Abendessen, bei dessen Anblick ihre Raubtierinstinkte geweckt wurden. Sie hatten seit dem Frühstück auf Mykonos nichts mehr gegessen, und so fielen sie über den leckeren Eintopf mit Fleisch, Paprika, Tomaten und Zwiebeln her, während sie von ihren Erlebnissen auf der Insel erzählten. Viel zu früh kam Georgios, um seinen Sohn abzuholen, und kaum hatten die beiden die Wohnung verlassen, als Tom schlagartig müde wurde.

Abrupt wurde er am nächsten Morgen aus seinen Träumen von bunten Fischen und unter Wasser lebenden Freunden gerissen.

„Sophia ist am Telefon," sagte Christina. Tom stolperte in den Flur. So früh hatte er den Anruf seiner Freundin nicht erwartet. Er sollte in einer Stunde zum Hafen kommen, mehr verriet sie ihm nicht.

Sophia und ihre beiden Freundinnen nahmen ihn in die Mitte und führten ihn zum Anleger der Schiffe nach Paloukia auf der Insel Salamis. Die Überfahrt war kurz. Im Hafen trennten sie sich von Dora und Maria, die Verwandte besuchen wollten, während Tom und Sophia mit dem Bus in wenigen Minuten zum Hauptort der Insel fuhren. Sie kannte sich offenbar gut aus. Ihr Ziel war ein Strand am östlichen Ortsrand, wo sie sich auf einer Decke niederließen, die sie mitgebracht hatte.

„Nun erzähl mal."

Und Tom erzählte. Er gab ihre Gespräche mit Petros ausführlich wieder, ohne allerdings zu erwähnen, dass er ihn schon bei Christina kennengelernt hatte.

„Wir müssen uns so bald wie möglich mit Nikos treffen," sagte Sophia. „Wir müssen irgendetwas tun."

Nach einiger Zeit leerte sich der Strand. Ausländische Touristen gab es hier nicht, und die Griechen zog es in der Mittagshitze nach Hause. Endlich konnten sie sich küssen. Vorher war das zu gefährlich, weil Sophia fürchtete, von Verwandten entdeckt zu werden, die auf der Insel ein Sommerhäuschen besaßen. Die Welt schrumpfte auf Handtuchgröße.

Wohlige Wellen durchschauerten Tom, als seine Freundin zärtlich ihre Fingernägel über seinen Rücken gleiten ließ. „Agapi mou." Ganz sachte ließ er seine Fingerkuppen die Konturen von Sophias Ohren streicheln. Sophia stöhnte leise auf. „Agapi mou." Sie wünschten sich auf eine einsame Insel, wo niemand sie stören konnte. Doch sie waren auf Salamis, und Piräus war nur ein paar Kilometer entfernt.

Viel zu schnell flog der Nachmittag vorbei. Auf dem Rückweg zum Hafen stellten sie fest, dass sie keinen Fuß ins Wasser gesetzt hatten. Dora und Maria warteten schon, und ihre Mienen verrieten blanke Neugier. Tom konnte sich gut vorstellen, dass Sophia einige Fragen würde beantworten müssen.

Schon auf dem Schiff verabschiedete er sich mit einem Kuss von seiner Freundin. In Piräus verließ er als einer der Ersten die Fähre, während die Mädchen warteten, bis die meisten Passagiere von Bord gegangen waren. Sophia wollte unbedingt vermeiden, womöglich zufällig mit Tom gesehen zu werden.

Von der Gangway war der Kai gut zu überblicken.

„Ist das nicht Tom," fragte Dora und zeigte auf eine Dreiergruppe etwas abseits des Gedränges auf dem Vorplatz. Sophia fuhr der Schreck in die Glieder, weil Tom gerade in diesem Moment zwei Männern seinen Pass aushändigte.

Die richtigen Leute Band 1: Die grüne LeuchtschriftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt