14 Eine uneinnehmbare Festung

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Nachdem sich beide wieder beruhigt hatten, packten sie die spärlichen Überreste ihres Picknicks zusammen. Sie schlenderten an der Festungsmauer in östlicher Richtung entlang und legten immer wieder Stopps ein, um die grandiose Landschaft zu ihren Füßen zu bewundern.

Auf der Suche nach einem schattigen Plätzchen steuerten sie eine einzelne Säule am Rand eines kleinen Feldes wild durcheinandergewürfelter Trümmer an. Nikos rannte die letzten Meter und hechtete auf einen großen Marmorblock. Er sah sich nach allen Seiten um, indem er seine Augen mit der rechten Hand beschirmte.

Als Tom nach einer weniger anmutigen Kletterei an seiner Seite stand, stellte sich ein unbeschreibliches Gefühl ein. Er fühlte sich wie der Kommandant einer uneinnehmbaren Festung. Kein Mensch war auf dem Plateau zu sehen.

Nikos erhob seine Arme und begann mit lauter Stimme eine pathetisch klingende Rede auf Griechisch. Als er endete, erwartete Tom unwillkürlich den Applaus der zahlreichen unsichtbaren Zuhörer, jedoch blieb alles still. Nur die Grillen, die während der Rede seines Freundes scheinbar verstummt waren, nahmen ihr Konzert wieder auf.

Sie sprangen von dem Steinblock und ließen sich im Schatten der etwas plumpen Säule nieder, deren Schlagschatten das einzige sonnengeschützte Plätzchen in diesem Teil der Anlage war. Am anderen Ende der Festung gab es eine ganze Reihe Ruinen, einen Turm etwa und eine Art Moschee mit einer Kuppel, wo es sicher mehr Schatten gab, aber hier war der Ausblick besser und der Aufstieg weniger anstrengend.

Tom fragte Nikos nach dem Sinn seiner Rede. Er hatte sich an fiktive Geheimpolizisten gerichtet und ihnen zugerufen, dass sie keine Chance hätten. Die mächtigen Mauern dieser Burg würden sie nicht bezwingen können, und alle, die sich hier befänden, seien sicher vor jeglichen Angriffen.

Tatsächlich fühlte sich auch Tom an diesem Ort eigenartig geborgen. Man konnte das Areal vollständig überblicken, sodass man jeden Menschen, der sich in seinen Grenzen bewegte, hätte sehen können. Feinde von außerhalb wären Stunden vor ihrem Eintreffen bemerkt worden. Man hätte das Tor in der äußeren Mauer nur zu schließen brauchen, und kein Angreifer hätte in das Innere eindringen können.

Die Jungen diskutierten, welche Teile von Toms Erlebnissen sie Nikos' Familie mitteilen sollten. Beide meinten, sein Onkel sollte vorgewarnt werden, und Nikos versprach, ihn bei nächster Gelegenheit zu informieren. Jannis müsste dann entscheiden, inwieweit er die anderen Familienmitglieder einweihen sollte.

Zwangsläufig drehte sich das Gespräch dann um die politischen Verhältnisse in Griechenland. Nikos wollte alles über die Männer des Widerstands erfahren, und aus seinen Kommentaren entnahm Tom, dass er sie bewunderte. In der deutschen Schule in Athen waren politische Diskussionen unter den Schülern an der Tagesordnung. Die meisten waren sich einig in der Ablehnung des Regimes, und einige hatten auch Möglichkeiten eines aktiven Widerstands besprochen. Es gab aber keine Organisation, die an der Schule aktiv war.

Als Tom erzählte, wie sie zusammen die Musik von Mikis Theodorakis gehört und wie die Männer darauf reagiert hatten, nahm das Gespräch eine andere Richtung. Natürlich kannte Nikos wie jeder Grieche diese Lieder, und Theodorakis war auch für ihn ein Held. Nicht ganz einig waren sie sich über die kommunistische Haltung des Musikers.

Toms Erfahrung mit diesem politischen System war geprägt von Fahrten nach Berlin, bei denen er, auf den Rücksitz des Autos seines Vaters gekauert, bei der Überquerung der deutsch-deutschen Grenze jedes Mal Angst gehabt hatte. Die hässlichen, menschenverachtenden Grenzsicherungsanlagen aus Beton und Stacheldraht wirkten auf ihn bedrohlich.

Einmal nahmen die ostdeutschen Grenzer den ganzen Wagen auf der Suche nach geschmuggelten Zeitungen oder Menschen auseinander, sie hielten Spiegel unter das Chassis, stocherten mit langen, biegsamen Drahtstücken im Beinzintank, und sie sprachen diesen hässlichen Dialekt, Sächsisch. Ein System, das seine Bewohner einmauerte, musste man ablehnen.

Die richtigen Leute Band 1: Die grüne LeuchtschriftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt