8 Von Erdbeben und Sonnenbrillen

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Am nächsten Morgen begleitete Tom Christina nach Athen. Während sie in die Kanzlei ging, streunte er durch die Straßen im Zentrum. An jeder Ecke gab es etwas zu entdecken, alles war neu, alles war anders. Nie zuvor hatte er mehrere Tage hintereinander Temperaturen von fast 40 Grad erlebt; keine Stadt, die er kannte, war so laut und voller Menschen. Trotzdem fühlte er sich schon fast heimisch. Den Stadtplan, in dem er die Stellen markiert hatte, die Christina ihm empfohlen hatte, entfaltete er erst, als es fast zwei Uhr war, der Zeitpunkt, zu dem sie sich treffen wollten.

Pünktlich war er an der Kanzlei, und nach einem schnellen Imbiss an einem Verkaufsstand fuhren sie zurück nach Piräus. Die kurze Fahrt in der U-Bahn machte ihn schläfrig, und als Christina ankündigte, sie wollte sich eine Stunde ausruhen, legte er sich in sein Bett im Gästezimmer und döste ein, bevor er auch nur eine einzige Seite gelesen hatte.

Er träumte, und in diesem Traum verwoben sich die gesammelten Eindrücke der vergangenen Tage zu einem Hin und Her aus grauen Taxis, Nikos, blauen Bussen, Sophia, hellem Strand - und immer wieder tauchte die Akropolis aus dem Häusermeer. Sie schien von jedem Punkt Athens aus sichtbar zu sein.

Plötzlich träumte er ein merkwürdiges Gefühl. Die Hitze schien drückender zu werden, der Straßenlärm wurde lauter und gleichzeitig immer realer. Noch halb im Schlaf setzte er sich auf. Er öffnete die Augen und war sich nicht sicher, ob er nicht doch noch träumte. Der Lärm steigerte sich weiter,aber das war kein Straßenlärm. Tom konnte sich das Geräusch nicht erklären.

Die Luft schien zu vibrieren vor Getöse, das sich irgendwie metallisch anhörte. Ein Klappern, das von allen Seiten zu kommen schien. Erschrocken bemerkte er, dass das schwere Bücherregal neben seinem Bett schwankte. Die Hängelampe in der Mitte des Zimmers pendelte hin und her. Das war kein Traum. Das Haus bewegte sich.

Tom brauchte einige Augenblicke, bis ihm klar wurde, dass es sich um ein Erdbeben handelte. Er sprang aus dem Bett und stürzte, nur mit seiner Unterhose bekleidet, panisch auf den Flur, wo er fast Christina über den Haufen rannte. Sie schrie ihm über den ohrenbetäubenden Lärm hinweg zu, sich in den Türrahmen zu stellen.

Tom verließ seinen Körper und beobachtete sich von der Decke des Flurs aus. Er sah sich selbst im Eingang zu seinem Zimmer, während Christina, blass und nervös, nur mit einem weißen Nachthemd bekleidet, in der Wohnzimmertür stand. Alles in der Wohnung bewegte sich, und selbst der Fußboden wirkte wie das Deck eines Schiffs in einem Sturm. Stundenlang verharrten sie bewegungslos, so als ob die kleinste Regung womöglich der Anstoß sein könnte, der das ganze Haus zum Einsturz brachte.

Urplötzlich war es still. Ein paarmal klickte es noch metallisch, aber dann war kein Geräusch mehr zu hören. Die Möbel schwankten nicht mehr, und die Lampen erreichten allmählich wieder ihre normale Position. Als Tom in seinen Körper zurückkehrte, fühlte er wieder festen Boden unter seinen Füßen. Er atmete aus. Die ganze Zeit hatte er die Luft angehalten, nicht absichtlich, sondern völlig automatisch. Er wunderte sich, dass er so lange ausgehalten hatte.

Auch Christina wirkte erleichtert. Sie ging vorsichtig ins Wohnzimmer und sah sich nach allen Seiten um. Auch Tom musterte seine Umgebung, konnte aber keine Veränderungen feststellen. Alles war, wo es sein sollte. Nichts bewegte sich mehr. Die Weingläser in der Vitrine im Wohnzimmer waren nicht zerbrochen.

Wortlos bewegten sich die beiden auf den Balkon, und nun erkannte Tom, woher das furchtbare Geräusch stammte, das ihm während des Erdbebens Angst gemacht hatte - in diesem Moment wurde ihm auch klar, dass er wirklich Angst gehabt hatte. Es hatte seinen Ursprung auf den Balkonen, die auf der Südseite des Gebäudes die gesamte Höhe und Breite einnahmen. Die Markisen waren an Aluminiumgestängen aufgehängt, deren Metallrohre während des Bebens aneinandergestoßen waren.

Die richtigen Leute Band 1: Die grüne LeuchtschriftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt