Tom erwachte aus einem tiefen Schlaf. Aufgrund des Dämmerlichts und der gedämpften Geräusche hatte er keine Ahnung, wie spät es war. Die Leuchtziffern seiner Uhr verrieten ihm, es war fast Mittag. Er stand auf und fuhr sich mit einem feuchten Schwamm durchs Gesicht, weckte Nikos und begab sich in die Küche. Kyra bereitete Kaffee zu und stellte eine Schale mit großen, orange-rot leuchtenden Tomaten auf den Holztisch, der mit zwei Bänken auf der Terrasse stand. Dazu kam ein Teller mit Schafskäse und ein Korb mit Stangenbroten.
Als Nikos noch immer ziemlich verschlafen erschien, genossen sie ein Frühstück, das Tom mehr zusagte als die üblichen Marmeladenbrote. Die Tomaten, die alle eine andere, verkrüppelte Form hatten, waren süß und saftig, mit einem intensiven Geschmack, und hatten nichts gemein mit den runden, kleinen, wässrigen Früchten, die meist aus Holland kamen und von den dortigen Gemüsebauern frechweg auch als Tomaten bezeichnet wurden.
Der Kaffee weckte ihre Lebensgeister. Der makellos blaue Himmel, die frische Brise vom Meer, das regelmäßige Rauschen der Wellen, der Duft nach Jasmin, Lavendel und Oregano, alles das versetzte die Jungen in ein Hochgefühl.
Angeregt besprachen sie, wie sie den Tag verbringen wollten. Der große Strand am anderen Ende der Insel war ihnen zu langweilig, um den kleineren würden sie wohl einen Bogen machen, also beschlossen sie, in der Nähe des Ortes nach einer geeigneten Badestelle zu suchen. Lieber wäre ihnen ein Strand gewesen, wo sie mit anderen Jugendlichen hätten Fußball spielen oder tauchen können, aber Kyra erzählte, dass es kaum Jungen in ihrem Alter auf der Insel gab. Die meisten waren bei Verwandten zu Besuch, denn sie waren froh, in den Ferien die Insel verlassen zu können, wenn sie nicht ohnehin auf dem Festland zur Schule gingen. Diejenigen, die daheim geblieben waren, arbeiteten in der Touristensaison, sodass sie wenig Zeit für Strandbesuche hatten.
So erkundeten sie nach dem Frühstück die Umgebung des Ortes, aber es gab nur wenige Stellen, an denen man hätte ins Wasser gehen können. Die Küste war felsig und zerklüftet, und in vielen kleinen Buchten war der Wellengang zu gefährlich, um dort zu schwimmen. Sie passierten eine Reihe malerischer Windmühlen und fanden einen Strand, an dem sich ein paar Familien mit kleinen Kindern aufhielten.
Auf dem Pfad, der hinunter zu der winzigen Bucht führte, mussten sie einen Graben überqueren, der die Abwässer eines nahe gelegenen Hotels der staatlichen Xenia-Kette zum Meer transportierte. Da der Bach nur wenige Meter neben dem Strand mündete, war ihnen die Lust auf Schwimmen in dieser Bucht bereits gründlich vergangen. Der Schmutz tat ein übriges: nicht nur Teile abgerissener Fischernetze und zahlreiche Netzkorken, sondern auch leere Flaschen und Essensreste.
Ernüchtert kraxelten sie zurück auf den Weg, der oberhalb des Meeres entlang führte. Nach zwei Biegungen, hinter denen jeweils postkartenreife Buchten auftauchten, die aber ebenfalls nicht zum Schwimmen geeignet waren, führte der Pfad steil bergauf zu einem Häuschen, das von einem Garten mit blühenden Blumen und allerlei Gemüse umgeben war und wie eine Oase in der ausgedörrten Landschaft wirkte. Um das Idyll perfekt zu machen, stand ein Esel trübsinnig vor sich hin dösend neben dem Haus, und auf der Veranda saß ein alter, bärtiger Mann, der gedankenverloren sein Komboloi, eine Art Rosenkranz, durch die Finger gleiten ließ. Sie grüßten ihn im Vorbeigehen, und er winkte ihnen zu.
Nach einem kurzen weiteren Anstieg erreichten sie die höchste Stelle des Hügels, und eine traumhaft schöne Küste lag zu ihren Füßen. Sie kletterten in eine der zahlreichen Buchten hinab, die zwar keinen Sandstrand hatte, aber gut vor dem Wellengang geschützt war. Es gab kaum Seeigel, und so tauchten sie in das Wasser, das hier kristallklar war. Unmengen kleiner Fische, die regelrecht aufblitzten, wenn ein Schwarm sich gleichzeitig drehte und für einen Sekundenbruchteil das einfallende Sonnenlicht reflektierte, schwebten manchmal minutenlang regungslos auf der Stelle, um dann wie auf Kommando gleichzeitig in eine Richtung davonzustieben.
DU LIEST GERADE
Die richtigen Leute Band 1: Die grüne Leuchtschrift
Historical Fiction„Die grüne Leuchtschrift" ist der erste von 20 Bänden meiner Buchreihe „Die richtigen Leute". Tom, ein 15-jähriger Deutscher, verbringt die Sommerferien im Jahr 1969 in Griechenland, wo eine Militärdiktatur herrscht. Kaum angekommen, lernt er im Hau...