„Ouzo," fragte Nikos.
„Ouzo," antwortete Tom. Sie packten ihre Sachen zusammen und kletterten barfuß zu dem Pfad hoch, denn ihre Füße waren noch nass. Oben angekommen, zogen sie die Sandalen an und machten sich auf den Weg zurück in den Ort. Als sie sich dem Häuschen mit dem alten Mann auf der Veranda näherten, brach Tom in wildes Gelächter aus. Er hatte den Esel in dem Garten erblickt.
Nikos sah ihn verständnislos an, bis er auf das Tier deutete, woraufhin auch er schallend lachen musste. Der alte Mann blickte zu ihnen herüber und winkte sie zu sich. Sie zögerten nur kurz und gingen zu dem Haus. Der Mann sprach einige Worte zu Nikos, erhob sich und schlurfte ins Haus.
„Wir sollen uns setzen, er lädt uns zum Ouzo ein. Er will uns eine Geschichte erzählen."
Das Panorama war atemberaubend. Das endlose Meer mit ein paar Fischerbooten und einigen Inseln, die in der Ferne schwarz und mit scharfen Konturen aus dem Wasser ragten, machte sie für einen Moment sprachlos. Da kam auch schon der Mann zurück, begrüßte beide Jungen mit Handschlag und stellte jedem ein Wasserglas hin, in das er einen ordentlichen Schuss „Ouzo 12" gab. Sie prosteten sich zu und tranken einen kleinen Schluck. Das Getränk war eiskalt.
Nun begann er mit einer kräftigen, streckenweise dramatisch anmutenden Stimme zu erzählen. Nikos übersetzte leise. Es war die Geschichte dieser Küste und dieses Hauses. Einst hatten die Boote von Piraten in den Buchten gelegen, die teilweise vom Meer her nicht einzusehen waren. In dem Haus auf dem Hügel, oder besser gesagt in einem großen Haus, das an dieser Stelle gestanden hatte, war das Hauptquartier der Seeräuber. Von hier aus wurden die Raubzüge geplant, und hierher wurde die Beute gebracht. Immer, wenn ein Pirat einen besonders guten Fang machte, baute er auf der Insel eine Kapelle. Es gab hunderte, und den Touristen erzählte man, gerettete Schiffbrüchige hätten sie aus Dankbarkeit erbaut. Das sei weniger als die Hälfte der Wahrheit, beteuerte er.
Tom merkte, dass der Mann sehr viel Spaß an seiner Geschichte hatte, und bat Nikos, seine Frage zu übersetzen:
„Sind Sie vielleicht ein Nachfahre der Piraten?"
Der Mann beugte sich über den Tisch und senkte effektvoll die Stimme:
„Ich bin der letzte Pirat von Mykonos, aber Jungs, verratet es niemandem, sonst kommen sie und sperren mich ein."
Sie saßen noch eine geraume Zeit auf ihrem Hochsitz über dem Meer, bis sie Hunger verspürten, der sie zum Aufbruch veranlasste.
Als sie abends Tante Kyra von ihrem Erlebnis erzählten, lachte sie:
„Das ist Thomas, der Pirat. Alle nennen ihn so, obwohl jeder weiß, dass er Fischer war. Irgendwann hat er die Piratengeschichte ein paar Touristen erzählt, und als er merkte, dass die sie ihm tatsächlich abnahmen, erzählte er sie jedem, der sie hören wollte. Inzwischen glaubt er sie wahrscheinlich selbst."
Sie fragten Kyra auch nach ihrer Meinung zu dem Plan, Petros das Leben ein bisschen angenehmer zu gestalten.
„Es würde ihm guttun, mal einen Tag am Meer zu verbringen," meinte sie. „Wir verkleiden ihn, dann ist das kein Risiko."
Beim Abendesen unterbreiteten sie ihm ihren Plan. Er wiegelte zunächst ab, weil er sie keiner Gefahr aussetzen wollte, aber gegen die geballten Argumente hatte er keine Chance. Ein kurzes Aufflackern von Abenteuerlust in seinen immer noch viel zu traurigen Augen war nicht zu übersehen, als er schließlich zustimmte.
Am nächsten Mittag schlüpfte die Dreiergruppe aus dem Haus, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass die Gasse menschenleer war. Ein Mann in Touristentracht mit einem riesigen Strohhut und zwei Jungen in Polohemden und Turnhosen (aber endlich ohne Strohhüte!) fielen tatsächlich nicht auf. Sie waren eben ein Vater mit zwei Söhnen auf dem Weg zum Strand, was dadurch unterstrichen wurde, dass sie einen Sonnenschirm mitschleppten. Der Bus brachte sie zur anderen Seite der Insel, wo ein geschäftstüchtiger Fährmann namens Basilis auf seine nächsten Opfer wartete. Nikos verhandelte kurz und freundschaftlich mit dem Kapitän, und schon saßen sie im Boot zum Strand der bunten Fische.
DU LIEST GERADE
Die richtigen Leute Band 1: Die grüne Leuchtschrift
Historical Fiction„Die grüne Leuchtschrift" ist der erste von 20 Bänden meiner Buchreihe „Die richtigen Leute". Tom, ein 15-jähriger Deutscher, verbringt die Sommerferien im Jahr 1969 in Griechenland, wo eine Militärdiktatur herrscht. Kaum angekommen, lernt er im Hau...