Nikos brachte neben einer Karaffe mit Wasser und drei Gläsern auch seinen Kassettenrekorder mit. Gierig tranken sie. Es war heiß, und auch das Tauchen machte durstig. Nikos wollte Tom (und eventuell vielleicht auch ein bisschen sich selbst) bei Sophia in ein besonders gutes Licht rücken. Er dachte, ein gemeinsam vorgetragenes Lied würde sie bestimmt beeindrucken.
„Israelites?"
Tom hatte den Song ein paar Tage nicht gehört und freute sich:
„Yes man, Israelites!"
Nikos startete die Kassette, und fröhlich sangen die beiden Jungen den Text laut mit. Sophia ließ sich von der guten Laune der beiden anstecken und bewegte sich, wie Tom und Nikos, im Takt der Musik. Als das Stück vorbei war, sagte sie:
„Was für ein trauriges Lied. Wie heißt der Sänger? Er hört sich komisch an."
Tom und Nikos sahen sich an. Traurig? Das Lied war so etwas wie der Soundtrack ihrer Freundschaft, beide liebten es, und Sophia musste ihnen sagen, dass es ein trauriges Lied war?
„Spul zurück, Nikos."
Sie lauschten diesmal ohne mitzusingen. „Wie kann man diesen Text singen, ohne ihn zu verstehen," fragte sich Tom, als ihm bewusst wurde, dass Sophia recht hatte. Die Geschichte des Mannes, der sich für seinen Boss abrackert, um seine Familie durchzubringen, und trotzdem alles verliert. Der Angst davor hat, kriminell werden zu müssen. Wahrlich kein fröhlicher Song. Trotzdem ein Song, zu dem man tanzen musste.
Nikos kaufte sich manchmal eine englische Musikzeitung, den „New Musical Express", und konnte den anderen deshalb einiges über den Sänger erzählen. Er hieß Desmond Dekker, und seine Band waren The Aces. Sie kamen von der Karibikinsel Jamaika, die ähnlich wie Zypern oder Malta einige Jahre zuvor ihre Unabhängigkeit von Großbritannien erhalten hatte.
Auf dieser Insel, wo es einige extrem reiche weiße Familien und sehr viele extrem arme Schwarze gab, wurde zunehmend erfolgreich Musik produziert, die auf dem Umweg über London international immer bekannter wurde. Bluebeat nannte man sie, manchmal auch Ska oder Reggae, je nachdem, ob sie schneller oder langsamer war. Einige Künstler aus Jamaika waren in Großbritannien, und damit auch in Europa insgesamt sehr erfolgreich. Immer wieder passierte es, dass Sänger von dieser kleinen Insel sich in den britischen Charts auf Augenhöhe mit den Beatles, Elvis oder den Bee Gees wiederfanden.
Dieser Desmond Dekker war, wie Nikos erzählte, ein gelernter Schneider, der seit einigen Jahren der Sänger der jamaikanischen Band war und nun einen Nr. 1 Hit in England hatte. Er war Schüler einer Schule gewesen, die vielleicht in der Welt einmalig war. Dort wurde nämlich neben den allgemeinen und handwerklichen Inhalten vor allem Musik unterrichtet, und viele Musiker, die von Jamaika aus eine internationale Karriere begründen konnten, stammten von dieser katholischen Schule, die Alpha Boys School hieß.
„Die Beatles haben einen Song über ihn gemacht, „Obladi, Oblada"," fügte er hinzu und sang den Anfang des Stücks.
Während im Hintergrund die neuesten Hits aus den britischen Charts liefen, diskutierten die drei, welche Möglichkeiten armeMenschen, vor allem, wenn sie schwarz waren, eigentlich hatten, um ihre Lebenssituation zu verbessern. Schließlich konnte nicht jeder schwarze US-Amerikaner Boxweltmeister werden oder jeder Jamaikaner Musiker. Sophia verglich Jamaikas Situation mit der Griechenlands. Auch hier gab es eine kleine, sehr reiche Oberschicht, und eine große, arme Unterschicht. Im Unterschied zu Jamaika spielten Rassenunterschiede kaum eine Rolle, wenngleich albanische Wanderarbeiter und Zigeuner nicht gerade gut behandelt wurden. Die einst vorhandene türkische Minderheit war größtenteils in die Türkei „umgesiedelt" worden.
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Die richtigen Leute Band 1: Die grüne Leuchtschrift
Historical Fiction„Die grüne Leuchtschrift" ist der erste von 20 Bänden meiner Buchreihe „Die richtigen Leute". Tom, ein 15-jähriger Deutscher, verbringt die Sommerferien im Jahr 1969 in Griechenland, wo eine Militärdiktatur herrscht. Kaum angekommen, lernt er im Hau...