Tom wachte auf, und in der Wohnung war es völlig still. Sein erster Gedanke war Sophia, das erste Bild die verweinten Augen seiner Freundin. Bewegungsunfähig lag er im Bett. Träge suchten seine Gedanken eine neue Ordnung. War er es, der vor wenigen Stunden fest entschlossen war, seine Freundin zu heiraten? War er es, der innerhalb weniger Tage mitten in einen politischen Prozess geraten war, von dem er vorher nichts wusste? War er es, der mit einem Jungen eine tiefe Freundschaft hatte, den er vor drei Wochen noch gar nicht kannte? War der Athener Tom der Tom aus Hohenberg? Wie würde Hohenberg den Athener Tom empfangen?
Er sah sich auf einer zwanzig Meter hohen Klippe stehen, unschlüssig, ob er den Sprung wagen sollte. Kommst Du falsch auf, ist die Wasseroberfläche hart wie Beton. Tauchst Du aber richtig ein, dann wartet weiches, warmes Wasser voller bunter Fische, und es hat genug Salz, es wird Dich tragen. „Spring," rief das Wasser ihm zu. „Spring bloß nicht, das ist viel zu gefährlich," rief ihm etwas zu, das er zwar gut kannte, das sich aber von ihm entfernt hatte. Tom sprang. Das Gefühl von Schwerelosigkeit war befreiend, und schon tauchte er in das wunderbar weiche, warme Wasser, wo er schon lange erwartet wurde.
In der Wohnung waren Geräusche zu hören. Tom stand auf und frühstückte mit seinen Gastgebern auf dem Balkon. Keiner erwähnte die Geschehnisse des Vorabends. Stattdessen schärfte ihm Stephanos noch einmal ein, sich vor der Geheimpolizei in Acht zu nehmen. Bevor er das Haus verließ, telefonierte er mit Jannis und kündigte für den Abend seinen Anruf für Nikos an, der um die frühe Uhrzeit noch nicht bei seinem Onkel war. Er musste seinen Freund ganz dringend treffen. Es gab ja ein paar Neuigkeiten.
Die schweren Gedanken der Nacht verflüchtigten sich, sobald er die Straße betrat. In einer Bäckerei erstand er eine Tüte warmes Sesamgebäck. Die Verkäuferin verwickelte ihn in ein Gespräch. „Wie kann man mit Leuten sprechen," dachte Tom, als er vor die Tür trat, „deren Sprache man nicht versteht?" So viel hatte er in den paar Wochen gelernt: Man spricht einfach, und man versteht sich, wenn man es will.
Neben der Bäckerei hockte ein älterer Mann in einem braunen Anzug, der offensichtlich teuer gewesen war, als er vor zwei Jahrzehnten geschneidert wurde. Klobige, hölzerne Krücken lehnten an der Hauswand, und auf einem Tuch vor ihm lagen einige angebrochene Zigarettenschachteln. Tom kaufte drei filterlose Navy Cut, die viel würziger schmeckten als die Pallas mit dem weißen Filter. Er rundete den Preis auf, und der alte Mann fragte lächelnd:
„Jermanikos?"
Tom nickte, und der Mann erzählte ihm, es sei sein Hobby, die Herkunft seiner Kunden zu erraten. Angeblich lag er fast immer richtig. Tom glaubte ihm aufs Wort.
In der voll besetzten U-Bahn lauschte er dem Gewirr griechischer Worte, die von allen Seiten auf ihn einströmten. Manches hörte sich aggressiv an, doch Tom wusste längst, dass eine angeregte Unterhaltung auf Griechisch eben für deutsche Ohren so klang. Für ihn war es wie Musik. Der Rhythmus der Sprache, aber auch die Laute, die sich oft wie Reime anhörten, ergaben einen wunderbaren Klangteppich.
In Monastiraki suchte er sich einen Tisch vor einem Café, bestellte einen Nescafé und fragte den Verkäufer, ob er sein Gebäck dazu essen dürfte. Die Antwort hörte sich nach Ablehnung an, und so kaufte er eine kleine Tüte mit runden Keksen, die in der Mitte einen roten Marmeladenklecks hatten. Er setzte sich an den Tisch, tunkte einen Keks in den Kaffee und beobachtete die Arkaden der U-Bahn-Station, neben der ein altes Gebäude stand, das ihn an eine Moschee erinnerte. Der Kaffee-Keks-Matsch war köstlich. Das Leben war schön.
Dann bildeten die Menschen, die aus dem Bahnhof strömten, eine Gasse, durch deren Mitte ein Mädchen und ein Junge schritten. Sophia und Georgios entdeckten ihn augenblicklich. Irgendwie war alles anders heute. Eigentlich schon den ganzen Morgen. Seine Freundin schüttelte ihm zur Begrüßung die Hand und setzte sich sittsam, während Georgios ihn auf beide Wangen küsste und umarmte.
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Die richtigen Leute Band 1: Die grüne Leuchtschrift
Historical Fiction„Die grüne Leuchtschrift" ist der erste von 20 Bänden meiner Buchreihe „Die richtigen Leute". Tom, ein 15-jähriger Deutscher, verbringt die Sommerferien im Jahr 1969 in Griechenland, wo eine Militärdiktatur herrscht. Kaum angekommen, lernt er im Hau...