Beiden war die Gefährlichkeit der Situation bewusst. Die Geheimpolizei überwachte offensichtlich nicht nur die Treffen Oppositioneller in Christinas Wohnung, sondern – zumindest zeitweise - auch Toms Aktivitäten.
Was konnte schlimmstenfalls passieren? Für Tom bestand die Gefahr, tatsächlich inhaftiert zu werden. Christina könnte unter dem Vorwand, mit den Regimegegnern gemeinsame Sache zu machen, auch eingesperrt, wenigstens aber an der Wahrnehmung ihrer Anwaltstätigkeit gehindert werden. Für ihre Mandanten bestand die Gefahr, dass ihr Verhalten als weiteres Indiz für ihre staatsfeindliche Einstellung gewertet würde und sie wieder ins Gefängnis gingen. Und schließlich würden auch Toms neue Freunde möglicherweise schikaniert werden.
Christina schlug vor, am Abend Kontakt zu einem ihrer Mandanten aufzunehmen. Natürlich mussten diese ohnehin über die drohende Gefahr informiert werden, aber sie hoffte insgeheim, ihre Freunde aus dem Widerstand hätten vielleicht eine rettende Idee.
Inzwischen war es später Nachmittag, und Christina musste für einen Termin mit einem Mandanten dringend in die Kanzlei. Tom begleitete sie, und während sie arbeitete und einige Telefongespräche führte, wartete er in einem Nebenraum. An einem Kiosk hatte er sich die neuste Ausgabe des „Stern" gekauft, und so vertrieb er sich die Wartezeit damit, jeden einzelnen Artikel des Magazins intensiv zu studieren. Nur hätte er sich hinterher wohl an kein einziges Thema erinnert.
In der Dämmerung, als Christina alle anstehenden Arbeiten erledigt hatte, fuhren sie nach Piräus. Unterwegs erzählte sie, einer der Männer, die Tom in ihrer Wohnung kennengelernt hatte, würde versuchen, trotz des Hausarrests am Abend in ein Restaurant am Passalimani zu kommen.
Bevor sie dorthin aufbrachen, telefonierte er mit Nikos. Er erzählte ihm noch nichts von den Geschehnissen des Tages, aber er hatte – ohne mit Christina darüber zu sprechen – beschlossen, ihm alles zu beichten. Schließlich könnten ja auch Nikos und seine Familie Probleme mit der Geheimpolizei bekommen, weswegen er sich heftige Vorwürfe machte.
Als er ihn nach einigem Hin und Her am Hörer hatte, schlug er vor, am nächsten Tag nach Delphi zu fahren. Nikos, der selbst noch nie dort gewesen war, stimmte freudig zu, und nach einer kurzen Diskussion bekam er auch die Erlaubnis seines Onkels Jannis. Sie verabredeten sich für den nächsten Morgen am Athener Busbahnhof.
Tom hatte nicht vor, nach Delphi zu fahren. Er befürchtete, dass die Wohnung oder das Telefon abgehört wurde, und hatte deshalb weder etwas von seinen Problemen erwähnt, noch sein wirkliches Ziel, nämlich Korinth, preisgegeben. So hoffte er, am nächsten Tag ohne die Überwachung durch die Geheimpolizei in Ruhe mit Nikos sprechen zu können.
Nach dem Telefonat fühlte er sich viel besser. Im Laufe des Tages hatte sich ein Loch der Angst in seinen Magen gefressen. Von Stunde zu Stunde war ihm klarer geworden, dass das alles kein Spiel war. Nun aber, mit der Aussicht, seine Sorgen mit Nikos zu teilen, und in der vagen Hoffnung, das Treffen mit dem Mann aus dem Widerstand könnte vielleicht doch noch eine Hintertür aufzeigen, schwankte er zwischen der durchaus nicht verschwundenen Angst und dem merkwürdigen Gefühl, dass er dabei war, eine Art heimliches Mitglied der Opposition zu werden.
An der Uferpromenade des Passalimani herrschte das übliche abendliche Gewusel. Christina und Tom trieben mit der Menge bis ans Ende des Jachthafens und schlenderten langsam zurück, bis sie ihn in eins der Restaurants zog. Sie sprach wenige Worte mit dem Inhaber, nahm Tom an der Hand und führte ihn in die Küche. Sie verließen den flachen Bau durch den Hinterausgang und schlichen über zwei Hinterhöfe zum Kücheneingang eines weiteren Restaurants.
Christina begrüßte den Wirt, einen rundlichen, fast haarlosen älteren Mann, der nach einem kurzen Wortwechsel Tom die Hand gab und die beiden dann in einen winzigen Nebenraum mit einem Tisch und ein paar Stühlen bat. Aufgrund eines überquellenden Aschenbechers und einiger halbleerer Gläser folgerte Tom, dass es sich um einen Pausenraum handelte. Hier waren viele Zigaretten geraucht worden, deren lauwarmer Qualm in dem fensterlosen Raum stand.
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Die richtigen Leute Band 1: Die grüne Leuchtschrift
Historische Romane„Die grüne Leuchtschrift" ist der erste von 20 Bänden meiner Buchreihe „Die richtigen Leute". Tom, ein 15-jähriger Deutscher, verbringt die Sommerferien im Jahr 1969 in Griechenland, wo eine Militärdiktatur herrscht. Kaum angekommen, lernt er im Hau...