6 Ein Taxi mit Flügeln

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Nikos und Tom sprinteten zu Georgios' Taxi, einem riesigen 1962er Dodge mit ausladenden Heckflügeln. Tom war schon aufgefallen, dass in Athen unzählige amerikanische Straßenkreuzer als Taxis unterwegs waren.

Der Wagen war mit durchgehenden, kunstlederüberzogenen Sitzbänken ausgestattet. Nach der Begrüßung setzen sich die beiden Jungen nach hinten, und Georgios steuerte die Limousine in den Verkehr. Träge schwang der Wagen die Unebenheiten der Straße aus. Tom hatte das Gefühl, in einer Sänfte zu sitzen. So stellte er sich das jedenfalls vor.

Stolz nahm Nikos einen Kassettenrekorder, einen Philips, aus dem Netz, das an dem Vordersitz befestigt war. Dieser Ipod der späten 60er war ein echtes Statussymbol, in Deutschland wie in Griechenland. Er erzählte, dass sein Cousin, der mit seiner Familie in England lebte, ihm regelmäßig Kassetten mit den neusten Hits schickte. Er drückte den Startknopf, und Tom war zuhause. I heard it through the grapevine.

„Do you love Marvin Gaye?"

Tom war, ohne es zu merken, ins Englische gerutscht. Er hatte in den vergangenen Tagen viel Englisch gesprochen, oft auch Englisch, Deutsch und Französisch mit den wenigen griechischen Brocken gemischt, die er aufgeschnappt hatte.

„I love everything from Motown, Stevie Wonder, Temptations, Smokey Robinson, Martha Reeves, but Marvin Gaye is the greatest."

Tom mochte die griechische Musik, die ihn von morgens bis abends umgab. Fast hatte er vergessen, dass er natürlich ein Rockmusikfan war. Tagsüber begleiteten ihn in Hohenberg die englischen Bands, die auf BFBS liefen. Nur wenn er allein war, schaltete er auf Sender, die Motown spielten. Seine Freunde teilten diese Liebe nicht unbedingt, und so gönnte er sich die wunderbare Musik spätabends, wenn Radio Luxemburg auf Englisch sendete oder die holländischen Piratensender gut zu empfangen waren.

Nikos wurde ihm immer sympathischer. Sie schaukelten mit offenen Fenstern die Pireos entlang, auf der sich um die Uhrzeit so viele Autos drängten, dass der Begriff „Schnellstraße" ziemlich übertrieben war. Palmen zogen an ihnen vorbei, endlose Reihen weißer, mehrstöckiger Häuser, dann wieder ein Gewirr kleiner Betriebe. Die warme Luft umwehte sie, und dann war „Grapevine" zu Ende.

Ein Knacken ertönte, und beim ersten Ton des nächsten Stücks sangen die beiden Jungen aus vollem Hals:

„Get up in the morning

slaving for bread sir

so that every mouth can be fed.

Poor me, the Israelite."

Die beiden Jungen tanzten sitzend auf der Rückbank des Straßenkreuzers, und das „Poor me, the Israelite" schrie Nikos jedes Mal laut aus dem Fenster, bis sein Vater ein paar deutliche griechische Worte an ihn richtete. Auch ausländische Musik war untersagt, wenngleich dieses Verbot nicht so unerbittlich verfolgt wurde wie das der Musik von Theodorakis.

Ein Gefühl absoluter Glückseligkeit überkam den Jungen aus Westfalen. Sicherlich hatte die Überdosis Sonne der letzten Tage zu einer kräftigen Ausschüttung von Glückshormonen geführt, und die Begegnungen mit den vielen Menschen hatten ihn aufgewühlt. Aber hier, tausende Kilometer von Zuhause, jemanden zu treffen, der so tickte wie er selbst, der ihm vertraut wie ein alter Freund war, obwohl sie noch keine zwanzig Wörter gewechselt hatten, und dann dieses unglaublich schöne, treibende Lied – ein perfekter Moment.

Viel zu schnell war es vorbei, und Tom rief, „Rewind, rewind!" Sie brauchten noch eine Stunde bis nach Agios Andreas, was für ungefähr 25 Wiederholungen des Stücks reichte.

Völlig geschafft und überglücklich stolperten die beiden Jungen aus dem Auto und wurden augenblicklich von einer Menschentraube umringt. Einer nach dem anderen wurde Tom vorgestellt. Neben Nikos' Eltern und Großeltern, Jannis und seiner Frau Eirene waren da noch einige Nachbarn, alles in allem etwa 20 Leute, die ihm das Gefühl vermittelten, er hätte immer schon zu ihnen gehört.

Die richtigen Leute Band 1: Die grüne LeuchtschriftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt