24 Deutsche Tourismusminister

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Eigentlich waren die beiden Jungen hundemüde. Geichzeitig waren sie so aufgekratzt, dass sie nur ihre Taschen in die Ecke stellten und sich sofort auf den Weg ins Ortszentrum machten, also zurück zum Hafen. Tom wusste, dass auf der ganzen Insel weniger Menschen lebten als in seinem Heimatort, knapp fünftausend, die allermeisten von ihnen im Hauptort. Dass hier niemand anonym bleiben konnte, war ziemlich klar, und wer bestiehlt schon jemanden, den er Tag für Tag trifft?

Mit zunehmend heißen Köpfen und Armen trotteten sie durch die Gassen, die wirklich eine Welt für sich darstellten, ein Miniaturkosmos, der so wenig mit dem modernen Großstadtleben zu tun hatte, dass man Dinge wahrnahm, die in der Reizüberflutung der Stadt völlig untergingen, wenn sie denn überhaupt vorhanden waren. Vor vielen Haustüren standen Batterien von Blumentöpfen, in denen Ranken mit bunten, duftenden Blüten wuchsen. In der Luft lag das Gezwitscher von Vögeln, das sich mit vereinzelten Wortfetzen und leiser Musik mischte, die aus einigen Häusern drang.

Als sie den Platz am Hafen erreichten, ging die Sonne hinter einem Ausläufer eines flachen Hügels unter. Auf der Promenade flanierten Menschen, die teilweise im besten Sonntagsornat unterwegs waren.

Nikos zog die Spendierhosen an und lud Tom zu einem Ouzo vor einer der Tavernen ein. Tom kannte dieses Getränk nicht und hoffte nur, dass es nicht einen ähnlich eigenwilligen Beigeschmack wie der griechischen Wein hatte. Ein kleiner Junge brachte ihnen ein Tablett mit zwei Schnapsgläsern, in denen sich das farblose Getränk befand, das einen intensiven Duft verströmte. Es erinnerte Tom entfernt an Lakritz. Dazu gab es eine Karaffe mit Eiswasser, zwei große Wassergläser sowie je ein Tellerchen mit Oliven und Sonnenblumenkernen.

Nikos goss Wasser in die großen Gläser und kippte den Ouzo hinein, wodurch die Flüssigkeit schlagartig trüb wurde. Die Jungen prosteten sich zu, und Tom nippte an seinem Getränk. Er hatte einen ähnlich ekligen Geschmack wie bei Korn oder Weinbrand erwartet, die er probiert, aber nicht gemocht hatte. Dieser Anisgeschmack jedoch gefiel ihm, und er hatte nicht den Eindruck, hochprozentigen Alkohol zu trinken. Tatsächlich löschte es sogar den Durst, und mit den Leckereien, die dazu gereicht wurden, war es eine perfekte Zwischenmahlzeit.

Nach einiger Zeit begrüßte sie auch der Wirt, ein nicht ganz schlanker Mann Mitte Vierzig, und fragte sie nach ihrem Woher und Wohin aus. Als er hörte, dass Tom aus Deutschland war, setzte er sich unaufgefordert zu ihnen und klatschte in die Hände, worauf der kleine Junge erschien, dem er einen Auftrag erteilte. Dann redete er in der Universalsprache auf Tom ein, die eigens für die Touristen erfunden wurde und aus Zutaten vieler europäischer Sprachen bestand, die niemand gelernt hatte und die doch jeder verstand.

„Ich bin glücklich, dass immer mehr Touristen aus allen Ländern unsere kleine Insel besuchen." Er zwinkerte Tom zu. „Ganz besonders freue ich mich, dass auch die Deutschen ihre Reisegewohnheiten geändert haben."

Tom verstand die Andeutung nicht, was seinem Gesicht anzusehen war. Der Mann sah sich zu einer Erklärung veranlasst:

„Vor 30 Jahren hattet Ihr in Deutschland einen Tourismusminister, der nannte sich nicht so, aber er organisierte jede Menge Reisen in fremde Länder. Er sagte den Leuten zum Beispiel, „Nehmt Euch ein paar Panzer, und dann macht Ihr einen Ausflug nach Polen oder nach Paris, oder nehmt Euch ein paar Fallschirme und springt über Kreta ab." Ich bin so froh, dass Ihr jetzt einen Tourismusminister habt, der sagt, „Fahrt, wohin Ihr wollt, nehmt das Auto, das Schiff, den Bus, aber keine Panzer und keine Fallschirme. Legt Euch in die Sonne, seht Euch die Museen an, schwimmt im Meer, aber lasst die Gewehre zuhause." So mag ich die Deutschen viel lieber."

Tom verschwieg ihm höflichkeitshalber, dass es in Deutschland gar kein Tourismusministerium gab. Tatsächlich war er etwas verunsichert. Mehrmals hatten Griechen in seiner Anwesenheit Bemerkungen über den Krieg gemacht, aber nicht ein einziges Mal hatte man ihn für die Besetzung des Landes durch die Generation seiner Eltern in Haftung genommen.

Der kleine Junge kam mit drei weiteren Gläsern Ouzo und einer frischen Karaffe Eiswasser, und der Wirt prostete ihnen zu. Während er sich ausführlich über Tante Kyra ausließ, die er offensichtlich gern mochte, redete er immer wieder mit anderen Gästen, wobei Tom häufig das Wort „Jermanikos" hörte. Der Wirt war dabei, ihn in kürzester Zeit großen Teilen der Inselbevölkerung vorzustellen. Nach dem dritten oder vierten, vielleicht auch dem fünften Ouzo verabschiedete er sich, nicht ohne ihnen Grüße für „seine liebe Kyra" aufzutragen.

Nikos zischte durch die Zähne, um den Jungen herbeizurufen, der sie bedient hatte. Als er nach der Rechnung fragte, wurde ihm gesagt, dass alles bezahlt sei. Er drückte ihm ein Trinkgeld in die Hand, und sie standen auf. Hatte Tom das köstliche Getränk eben noch für eine Art leicht alkoholhaltiger Limonade gehalten, so merkte er nun, dass schon wenige Gläser Ouzo gewisse Körperfunktionen deutlich erschweren können.

Die Welt bewegte sich, nur leicht und nicht bedrohlich, aber die Dinge blieben nicht da, wo sie sein sollten. Er hielt sich kurz an der Lehne seines Stuhls fest und bemerkte, dass auch Nikos nicht ganz von allein gerade stehenblieb.

Der Weg in die Gaststube, wo sie sich bedanken wollten, war ziemlich lang und führte durch ein Labyrinth aus Tischen und Stühlen, zwischen denen viel zu wenig Platz war. Grinsend lud der Wirt sie ein, am nächsten Tag wieder vorbeizuschauen.

Sie stiefelten nach Klein Venedig, und auch dieser Weg war deutlich länger als vor zwei Stunden. Nun verstand Tom, warum griechische Männer oft Hand in Hand gingen. In diesem Zustand war es viel einfacher, den geraden Weg zu finden, wenn man sich an jemandem festhalten konnte. Er teilte Nikos seine Überlegungen mit, der meinte, Tom machte bei seinem Verständnis griechischer Verhaltensweisen Fortschritte.

Fröhlich, aber bemüht beherrscht betraten sie das Haus am Meer. Der Duft von gebratenem Fisch lockte sie in die Küche, wo Tante Kyra mit rotem Kopf arbeitete, der noch eine intensivere Tönung annahm, als sie die Grüße des Wirtes ausrichteten.

„Ouzo schmeckt Euch gut, stimmt's," fragte sie mit spöttisch blitzenden Augen, was die Jungen widerstrebend zugaben. Tom nahm sich vor, in Zukunft mit diesem Getränk behutsam umzugehen, wenn die Wirkung so deutlich zu bemerken war.

Der kleine Tisch war für vier Personen gedeckt, und Tante Kyra erklärte ihnen, der Gast aus ihrem Nachbarzimmer würde mit ihnen essen.

„Er ist Schriftsteller, arbeitet den ganzen Tag und die halbe Nacht," sagte sie. „Er geht eigentlich nie nach draußen."

Damit hatte sie Toms Neugier geweckt, der noch nie einen richtigen Schriftsteller kennengelernt hatte und sich diese Sorte Menschen spannend vorstellte.

Tante Kyra stellte eine Platte mit kleinen gebratenen Fischen und Schüsseln mit Gemüse auf den Tisch und brachte schließlich Wasser, zu dem sie wiederum mit diesem spöttischen Lächeln bemerkte:

„Wasser ist wichtig, denn Fische wollen schwimmen. Und Ouzo erst recht."

Den letzten Teil der Bemerkung verstand Tom erst später, als er mitten in der Nacht aufwachte, weil der Ouzo in seinem Bauch nach Wasser schrie. Aber vielleicht waren das ja doch die Fischchen.

„Schildert mir das noch mal Schritt für Schritt," forderte der Geheimpolizist seine beiden Agenten auf.

„Sie sind zu zweit aus dem Haus gekommen. Tom hatte eine leere Tasche, der andere zwei, die müssen schwer gewesen sein. Dann ist Tom in eine Wäscherei gegangen, der andere hat davor Schmiere gestanden. Als Tom rauskam, war seine Tasche auch schwer, und sie sind sofort losgerannt. Am Fährhafen kam ein Lastwagen mit Anhänger, hinter dem sind sie verschwunden."

„Also gut. Ihr beobachtet weiter die Wohnung. Wenn Tom das nächste Mal mit einer Tasche losgeht oder irgendwo etwas abholt, verhaftet Ihr ihn und bringt ihn her. Wenn er nichts transportiert, beschattet Ihr ihn. Und seht Euch mal in der Wäscherei um."

Er entließ die Agenten in den Feierabend, machte sich ein paar Notizen und ärgerte sich. Weniger darüber, dass der Deutsche ihnen entwischt war, sondern vielmehr darüber, dass die Fähren immer noch keine Passagierlisten führten.

Die richtigen Leute Band 1: Die grüne LeuchtschriftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt