17 Fahren wir auf die Insel, Gangster

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Gegen acht Uhr weckte Christina Tom aus seinen Träumen.

„Kommst Du mit in die Kanzlei? Ich habe einen Kollegen gebeten vorbeizukommen. Er vertritt auch Regimegegner und kennt die Geheimpolizei ganz gut. Vielleicht weiß er einen Ausweg."

Tom zog die schwarzen Lederschuhe an. Sandalen fand er dem Anlass nicht angemessen.

Der Anwalt war ein hochgewachsener Mann um die 35 mit störrischen kurzen Löckchen. Sein maßgeschneiderter Dreiteiler und die weinrote Krawatte ließen ihn souverän wirken. Er sprach fließend Englisch. Nachdem Christina ihm die Vorgänge geschildert hatte, ging er zum Fenster und schaute eine Weile schweigend hinaus. Dann setzte er sich wieder an den kleinen Besprechungstisch. Seine Analyse war druckreif:

„Ich unterstelle zuerst einmal, dass Du den Pass nicht weitergegeben hast. Das gesagt, gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens: Du hast den Pass einfach verloren. Das kann am Strand gewesen sein oder in einem Bus. Die Wahrscheinlichkeit, ihn wiederzufinden, ist gering. Also wirst du ihn nicht vorlegen können. Dann hat die Geheimpolizei Dich in der Hand.

Sie werden Dich nicht foltern, um eine Aussage zu bekommen, denn Du bist Ausländer. Irgendwann werden sie Dich gehen lassen müssen. Aber sie können Dich für eine Weile inhaftieren. Wenn Du festgenommen wirst, hat die deutsche Botschaft die Pflicht, mit Dir in Kontakt zu treten, und irgendwie werden sie Dich nach Hause holen. Das kann aber ein paar Wochen dauern, vielleicht auch länger.

Die zweite Möglichkeit: Habt Ihr mal daran gedacht, dass die Geheimpolizei den Pass an sich gebracht hat? Wenn sie Dich schon beobachtet haben, und so sieht es ja aus, könnten sie genau das getan haben. Die Konsequenzen sind letztlich dieselben, nur dass sie in diesem Fall von Anfang an geplant waren. Ich frage mich nur, warum sie an Dir interessiert sind."

„Vielleicht wollen sie Tom als Druckmittel gegen mich einsetzen," spekulierte Christina.

„Könnten sie das nicht einfacher haben? Was ist mit den Mandantengesprächen in Deiner Privatwohnung?"

„Die sind offiziell genehmigt. Wundert mich zwar, aber daraus können sie mir keinen Strick drehen. Möglicherweise glauben sie, dass ich Kontakt zu anderen gesuchten Personen habe."

„Das bringt uns nicht weiter," fuhr der Anwalt fort. „Tatsache ist: der verlorene Pass liefert ihnen einen Vorwand. Die Frage ist, was ist zu tun, um die Haft zu umgehen? Mir fallen zwei Optionen ein. Erstens: Ihr nehmt Kontakt mit Deutschland auf und versucht zu erreichen, dass die Botschaft beim Außenministerium interveniert. Das Problem dabei ist: die Geheimpolizei tut nicht immer, was ein Ministerium ihr sagt. Man könnte Deine Freilassung in jedem Fall verzögern. Es kann sogar sein, dass sich die Sache dadurch länger hinzieht, weil die Geheimpolizei ihre Stärke demonstrieren will. Das Regime ist noch nicht gefestigt. Die Institutionen müssen ihre Macht noch erkämpfen. Es ist also offen, ob eine Intervention hilfreich wäre.

Zweitens: Du gehst zu dem Termin und bleibst bei Deiner Geschichte. Ich schätze die Chance, dass sie Dich verhaften, auf 50 zu 50. Dagegen spricht eindeutig, dass Du als Deutscher einer befreundeten Nation angehörst und so jung bist. Siekönnten Dich noch einmal ausfragen und lassen Dich dann vielleicht laufen, um keine diplomatischen Komplikationen heraufzubeschwören. Wenn sie Dich doch verhaften, dauert es sicher einige Wochen, bis sie Dich freilassen, aber ich glaube nicht, dass sie Dich mehr als 2 Monate festhalten werden."

„Zwei Monate," durchfuhr es Tom. Ihm wurde klar, dass diese Aussichten eine Flucht, wie von dem Alten Mann vorgeschlagen, rechtfertigen würden. Der geheime Weg über Patras wurde in seiner Kalkulation wahrscheinlicher.

Der Anwalt öffnete sein Jackett und lockerte seinen Seidenschlips.

„Nehmen wir einmal an, ich wäre kein Anwalt, und wir unterhielten uns einfach so, weil Christina und ich befreundet sind. In dem Fall würde mir vielleicht eine ganz andere Idee kommen. Die neue Regierung passt zwar schon auf, wer in das Land reist, und wer hinaus. Aber unser Staat ist nicht so perfekt wie Deutschland. Unsere Grenzen auch nicht, jedenfalls nicht so perfekt wie die zwischen den einen und den anderen Deutschen. Mit ein bisschen Geld müsste sich doch ein inoffizieller Weg finden, oder nicht?"

Die richtigen Leute Band 1: Die grüne LeuchtschriftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt