IV - Lost In Attention
31st of May
Angestrengt legte ich das fette Biologiebuch endlich in meinen Spind und atmete einmal tief durch. Der Schultag hatte mir relativ viel Kraft gekostet, nachdem ich sowieso schon ohne besonders viel Schlaf hier angekommen war und dann auch noch zwei Stunden Mathe hatte. Doch jetzt war die Zeit angebrochen, in der ich mich endlich etwas entspannen konnte und das war die Chorprobe, bei der mein Kopf meist immer frei wurde. Beim Klavier spielen gab es nur mich und meinen leeren Kopf, was das beste Gefühl war, das man haben konnte, besonders wenn man sehr gestresst war. Ich liebte es sehr und wahrscheinlich würde ich ohne das Klavier in dieser Schule verrückt werden. Vielleicht war das auch einer der Hauptgründe dafür, dass ich das Spiel mit Patrick spielte, um auf dieser Schule zu bleiben. Zuhause hatten wir nicht genug Platz für ein Klavier und schon gar nicht das Geld, um uns überhaupt eins leisten zu können. Seufzend fiel mein Blick auf das kleine Bild von dem Schulchor, das ich freudig in meinen Spind gehängt hatte, nachdem wir das erste Mal mit mir als Begleitung aufgetreten waren. Es war ein toller Tag gewesen und schon gleich danach war ich ein festes Mitglied des Chors geworden, obwohl ich nicht einmal singen konnte, sondern nur das sanfte Klavier im Hintergrund spielte."Hallo, Manuel! Echt coole Frisur.", begrüßte mich plötzlich eine unbekannte Stimme, weshalb ich mich verdattert zu dem Mädchen umdrehte, das mich im Vorbeigehen lieb angrinste. Verwirrt schaute ich ihr nach und konnte nicht einmal sagen, wer sie war. Sie müsste ihres Aussehens nach ein oder zwei Klassen unter mir sein und mit dem Chor hatte sie auch nichts zutun. Nicht mal in meiner Zeit als Schülersprecher war sie nur einmal zu mir gekommen und würde es wahrscheinlich auch nie tun, doch gerade als ich diese Interaktion einfach vergessen wollte, ging mir ein Licht auf. Sie war zu einer hohen Wahrscheinlichkeit von Patrick besessen und musste sich nun bei mir gutstellen, weil ich schließlich nach ihrer Sicht sein fester Freund war. Patrick hatte mir schon verraten, dass viele Leute ihn einfach so mal ansprachen, obwohl sie gar nichts mit ihm zutun hatten und das mir das nun auch passieren könnte. Das erklärte wohl auch das belanglose Kompliment, da ich mich nicht erinnern konnte, meine Haare in der Schule jemals anders getragen zu haben. Trotzdem hätte ich nicht gedacht, dass die Menschen sich nun wirklich bemühten, meine Aufmerksamkeit zu ergattern und das nur, um ein bisschen von Patricks Beliebtheit zu profitieren. Manchmal war ich so sehr beschäftigt, dass ich ganz vergaß, dass die meisten Menschen sich weniger dafür interessierten, einen guten Abschluss zu machen und viel mehr ihre Zeit damit verbrachten, in der Beliebtheitskette aufzusteigen, damit sie am Ende des Jahres vielleicht zur Promqueen und zum Promking gewählt wurden. Doch, dass ich in diesem Szenario nun eine wichtige Rolle spielte und wahrscheinlich als große Chance betrachtet wurde, konnte ich einfach nicht nachvollziehen. Ich fühlte mich nicht wirklich beliebt, da mich jeder zwar akzeptierte und im Kopf behielt, aber niemand sich so für mich interessierte, wie sie es bei Patrick taten. Das alles sollte sich aber jetzt wohl ändern, obwohl ich nicht wirklich versessen darauf war, Patricks kleine Schaustellpuppe zu werden und sich sonst niemand um mich scherte. Genervt nahm ich rasch meine Noten für das Klavier aus dem Spind und versuchte einfach darauf zu hoffen, dass das eine einmalige Sache gewesen war. Doch gerade als ich meinen Spind schließen wollte, kam mir jemand zuvor und schloss meinen Spindtür mit einem Mal genau vor meinem Gesicht.
Erschrocken zuckte ich stark zusammen und blickte sofort in die warmen braunen Augen von meinem Fake-Freund. "Na Manu, wie war dein Tag so?", hakte er mit einem breiten Grinsen auf den Lippen nach und lehnte sich dabei gelassen an einen Spind hinter sich. "Fragst du, weil es dich interessiert oder weil du dich einschleimen willst? Oder warte, vielleicht fragst du auch, weil feste Freunde das so machen?" Genervt rollte Patrick mit den Augen und schien nicht wirklich verstanden zu haben, was ich ihm damit sagen wollte. "Ich frage, weil es mich interessiert. Naja, vielleicht auch alles drei.", dachte er laut nach, was mich nur verwirrt das Gesicht verziehen ließ. "Mein Tag war nicht der beste, aber das wird sich jetzt ändern." "Wow, du bist wirklich der einzige, den ich kenne, der auf Smalltalk ehrlich antwortet.", stellte Patrick grinsend fest, was mich nur genervt seufzen ließ. Ich hatte Smalltalk noch nie verstanden und konnte gar nicht damit umgehen, aber wahrscheinlich hatte er das soeben gemerkt. "Nettes Gespräch, Patrick. Wir sehen uns dann, irgendwann.", wollte ich mich gerade von ihm verabschieden, doch als ich losgehen wollte, stellte er sich selbstsicher in meinen Weg, "Was willst du denn noch?" "Ich will mitkommen.", erklärte er fest und starrte mich mit einem bittenden Blick an, den ich so noch nicht von ihm kannte. Sonst musste Patrick meistens um nichts bitten, da er sich einfach das holte, was er haben wollte, doch bei mir schien das nun plötzlich ganz anders zu sein. Er fragte mich wirklich, ob er mitkommen konnte, obwohl er das wahrscheinlich einfach hätte seiner Mutter sagen können, die ihn in die Chorprobe gebracht hätte und das ohne eine Einwilligung von einem Mitglied. "Du willst mit zu meiner Chorprobe?" "Richtig." "Und warum das plötzlich? Das ist für dich bestimmt nur langweilig, Patrick.", versuchte ich ihm diese Idee auszureden, da ich einfach keine Lust darauf hatte, die einzige entspannte Zeit, die ich am Tag besaß, mit der größten Lüge meines Lebens zu verbringen. "Denkst du wirklich, dass ich Musik gleich langweilig finde nur weil ich einer der Sportler bin? Außerdem haben wir uns den ganzen Tag nicht gesehen und ich will den Schein wahren." "Wir können auch morgen den Schein wahren.", widersprach ich ihm mit einem Unterton, den er auf jeden Fall verstanden hatte. "Du willst mich also nicht dabei haben, schade."
Kopfschüttelnd wollte er einfach gehen und das wäre wahrscheinlich meine Chance gewesen, aber mein schlechtes Gewissen sorgte dafür, dass ich nach einem langen Seufzer seinen Namen rief. Schnell blieb er stehen und ich bereute sehr, mich dafür entschieden zu haben. "Na komm schon, Patrick. Wir kommen sonst zu spät." Lächelnd drehte er sich um und kam mir sofort hinterher, weswegen ich schnell bemerkte, dass es sein fieser Plan gewesen war, mich mit dieser Nummer einfach zu manipulieren, doch das einzige, was sich dabei auf meine Lippen schlich, war ein belustigtes Grinsen.
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Lost In Lies | Kürbistumor
FanfictionSchülersprecher, bester Schüler seines Jahrgangs und dazu auch noch verdammt talentiert. Für Manuel könnte es nicht besser laufen, wenn da bloß nicht diese Geldprobleme wären, die ihm wahrscheinlich bald seinen Schulplatz kosten werden. "Ich kann a...