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VI - Lost In a Different World

2nd of June
Müde hing mein Blick starr an dem Tisch vor mir, während mein Bein durchgehend in einem gleichmäßigen Rhythmus hoch und runter wippte und ich das nicht einmal mehr wirklich wahrnahm. Nur nebenbei hörte ich den tiefen Stimmen beim Reden zu und konzentrierte mich eher darauf, nicht plötzlich einzuschlafen. Mal wieder steckte ich mitten in einer Besprechung mit ein paar älteren Männern, die sich stets um das Festival kümmerten, das sich Ende nächsten Monats bei uns abspielen sollte. Eigentlich hörte ich sonst immer gut zu, damit im Endeffekt nichts schief lief, weil es nun einmal in meinen Händen lag, dieses Festival zu organisieren, aber heute langweilte mich jedes einzelne Wort. Nach jeder Entscheidung, die ich im Nullkommanichts getroffen hatte, besprachen sie für ewige Minuten, wie sie das auf die Beine stellen würden und fertigten einen perfekten Plan aus, damit alles so lief, wie ich es wünschte. Eigentlich hatte ich damit kein Problem, da ich selbst der Meinung bin, dass Vorbereitung das A und O war, aber innerlich fragte ich mich nur leise, warum ich dabei sein musste. Sie hätten auch einfach meine Entscheidungen aufnehmen und diese dann firmenintern planen können, aber leider schienen sie so perfektionistisch zu sein, dass ich sogar mitbekommen sollte, wann sie welches Getränk bestellen würden. Nur leider schienen sie nicht zu merken, dass ich gar nicht zuhörte durch meine innere Müdigkeit, die es mir nicht leicht machte, mein Gehirn anzuregen. Wenn man nicht so früh aufstehen müsse, fiele es mir wahrscheinlich sogar noch viel leichter, meinen Schulalltag zu bewältigen, aber irgendjemand hatte entschieden, dass manche Schulen schon um halb acht Uhr morgens beginnen mussten, obwohl es sogar psychologisch erwiesen war, dass man ab späteren Uhrzeiten besser lernen konnte. Aber die Menschen, die sich das Schulsystem ausgedacht hatten, schienen sich sowieso nicht sehr für Fakten zu interessieren. Sonst würden sie bestimmt auch wissen, dass man ein Thema besser lernen konnte, wenn man einen Sinn darin erkannte und es einen interessierte und nicht, weil man sich gute Noten erhoffte. Und einen Sinn in Pythagoras-Rechnungen und der Analyse eines Gedichtes gibt es ganz bestimmt nicht. Zumindest nicht mehr heutzutage.

Doch leider war der frühe Beginn der Schule nicht mein einziges Problem gewesen. Wahrscheinlich ist man nämlich nicht nur müde, weil man früh aufstehen musste, sondern auch weil man spät ins Bett gegangen war oder überhaupt nicht geschlafen hatte. Nachdem Patrick mich vor die Tür gebracht hatte, schien meine Mutter mal wieder eine schreckliche Phase zu haben. Trotzdem war es nicht so schlimm gewesen, wie damals, als sie drei Tage lang nichts mehr gegessen hatte und aus Trotz ihren Lieblingsteller zerstörte, der bis oben hin mit ihrem Lieblingsessen gefüllt gewesen war. Gestern schien etwas wieder ihren Schlaf zu rauben und wenn das geschah, gab es keine einzige Möglichkeit, als die ganze Nacht in ihrer Nähe zu sein. Sie würde auf schreckliche Ideen kommen, die ich mir nicht einmal ausmalen wollte, also war es wichtig, sie im Auge zu behalten, komme was wolle. Und es war kein Problem für mich, sie war schließlich meine Mutter und ich würde alles für sie tun, um sie zu schützen. Egal wie sehr es mich einschränkte. 

"Herr Büttinger? Sind Sie noch anwesend?", erkundigte sich einer der Männer bei mir, während mich alle skeptisch beäugten und ich sofort mit einem Mal aufrecht auf meinem Stuhl saß. "Natürlich. Entschuldigen Sie bitte." Mit leicht verengten Augen musterte mich der ältere Mann mit dem schrecklichen Oberlippenbart, aber fuhr kurz danach wieder mit seinem Plan fort. Mal wieder stellte ich mir die Frage, warum ich das so dringend hören musste. Gerade als ich mich davon abhalten musste, einmal laut zu seufzen, nahm ich plötzlich komische Bewegungen von draußen wahr, die glücklicherweise niemand anderes sehen konnte, da sie alle mit dem Rücken zu dem riesigen Fenster saßen. Erschrocken weiteten sich meine Augen, als ich Patrick erkannte, der mir mit einem verschwitzen Grinsen auf den Lippen in die Augen schaute und höchstwahrscheinlich nichts Gutes im Sinn hatte. Lachend fing er an, verrückte Grimassen zu schneiden und ich hatte das Gefühl, er hätte es sich zur Aufgabe gemacht, mich zum Lachen zu bringen. Doch leider hatte er sich da die falsche Person ausgesucht, da ich so etwas gut abtun konnte, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Mit jeder Sekunde, in der ich keine Miene verzog und ihn nur ausdruckslos beobachtete, versuchte er noch einen draufzusetzen und begann plötzlich, seinen ganzen Körper zu bewegen. Innerlich hoffte ich so sehr, dass ihn irgendjemand zusah, ohne dass er es bemerkte und er es am Ende bereuen würde, mich zu testen. Und als sich plötzlich noch eine Person zu ihm gesellte, wurden meine Augen ganz groß. Schon von Weitem hatte ich erkannte, dass es unser gehässiger Hausmeister war, der Kinder definitiv hasste und keine Scheu hatte, es uns zu zeigen. Wütend keifte er Patrick an, während ich langsam meine Hand vor den Mund nahm, um mein Lachen zurückzuhalten, damit es niemand bemerkte. So wie man es von Patrick kannte, fing er nämlich auch noch das Diskutieren an, da es ihm sowieso nicht wehtat, weil jeder wusste, dass seine Mutter ihn schlecht rauswerfen konnte. Gerade als Patrick mich noch mal angrinste und sich schnell aus dem Staub machte, drehten sich alle zum Fenster um, weswegen ich mir mein Lachen nicht mehr verkneifen konnte. 

Lost In Lies | KürbistumorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt