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XXXIV - Lost In Reunion

25th of August
Gedankenverloren blickte ich seufzend aus dem riesigen Fenster, das einen ordentlichen Einblick auf den kleinen, gepflegten Garten schenkte, den Amber liebevoll in ihrer Freizeit zu pflegen schien. In den letzten Tagen hatte ich oft beobachtet, wie meine Stiefmutter ihre freie Zeit gerne in ihrem Garten verbrachte und dabei vielleicht auch manchmal alles um sie herum vergaß. Erst dann hatte ich wohl verstanden, wieso mein Vater sie so sehr zu mögen schien. Sie teilte diese feurige, standhafte Leidenschaft, die schon immer das Herz meines Vaters weiter schlagen lassen hatte. Auch wenn die Liebe zur Musik meines Vaters und die Liebe zur Gartenarbeit von Amber ganz verschieden aussahen, teilten sie dieses wohlige Gefühl im Bauch, das auftauchte, sobald man seine Leidenschaft auslebte und einem die Motivation dazu gab, jeden Tag aufs Neue weiterzumachen. Aufzuwachen, den Tag auszunutzen und wieder schlafen zu gehen. Ein ewiger, eintöniger Rhythmus, der mit der richtigen Motivation aber plötzlich zu strahlen begann.
Wahrscheinlich hatte er stückweit deswegen meine Mutter verlassen. Wahrscheinlich hatte sie ihr Licht schon früher verloren, als ich geglaubt habe. Manchmal war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob sie überhaupt jemals so geleuchtet hatte.

Kopfschüttelnd schenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher, auf dem schon seit einer halben Stunde ein neuer Disney-Film lief, den Dylan unbedingt hatte schauen wollen. Doch als ich endlich nachgegeben und seinen gewünschten Film laufen lassen hatte, schien er nicht mehr seinen Mund halten zu können. Noch nie hatte ich so ein gesprächiges Kind kennengelernt. Ein Kind, das sogar sprach, wenn man das tat, was es wollte. Ein Kind, das sich letzte Woche fast an seiner Schokolade verschluckt hatte, weil es einfach nicht aufhören konnte, zu reden.
Leicht lächelnd beobachtete ich wie er, auf den Boden sitzend, mit großen Augen auf den Fernseher konzentriert war und sich wohlig hinten an dem Sofa anlehnte, auf dem ich saß und seine kleine Schwester im Arm hielt, die sich müde an mich kuschelte. Avery schien mich schon seit dem ersten Tag bedingungslos zu lieben. Und seitdem schien es auch so, als würde sie mich nie wieder loslassen wollen. Überall, wo sie hinging, musste ich mitkommen. Überall, wo ich hinging, musste sie mitkommen. Eine endlose Schleife, die einem das letzte Bissen Privatsphäre stahl und für jeden in meinem Alter wohl die Hölle sein musste, besonders wenn man daran gewohnt war, ein Einzelkind zu sein. Und obwohl es am Anfang schwer gewesen war, mich daran zu gewöhnen, würde ich es jetzt am liebsten nie wieder aufgeben wollen. Ein lauter Zweitklässler und eine anhängliche 3-Jährige waren auf jeden Fall mehr als nervig, aber wenigstens waren sie das völlige Gegenteil von Stille und Einsamkeit. Sie strahlten so hell und schienen dafür zu sorgen, dass mir kein dunkler Gedanke zu Nahe kommen konnte. Obwohl sie noch so jung waren und nicht wirklich verstanden, warum ich hier war, schienen sie mich also in jeder kleinsten Weise zu beschützen. So als wären sie in Wahrheit die älteren Geschwister.

"Wie bekommt man so eine Superkraft?", hakte Dylan plötzlich nach, nachdem er sich zu mir umgedreht hatte und fragend auf den Fernseher deutete. Kaum konnte ich verstecken, wie meine Mundwinkel belustigt in die Höhe zuckten. "So etwas gibt es nur in Filmen, Dylan." Nickend drehte er sich wieder um und blickte zurück zum Fernseher. "Dann möchte ich in einem Film sein, wenn ich groß bin." Kichernd schüttelte ich mit dem Kopf, während sich Avery noch näher an mich drückte. "Dann musst du wohl Schauspieler werden." Interessiert schaute er mich wieder an und nickte sofort hastig, so als hätte er in diesem Moment seinen Traumberuf gefunden und seine ganze Zukunft fertig geplant. "Das mache ich. Dann habe ich auch so coole Kräfte und rette die ganze Welt und-" "Wenn du das wirklich machen möchtest, solltest du dich jetzt auf den Film konzentrieren und schon fleißig üben.", schlug ich vor, bevor er noch weiter reden konnte, weswegen er sofort motiviert zustimmte und konzentriert den Film weiter sah.

Grinsend schüttelte ich ein weiteres Mal mit dem Kopf und genoss den kurzen Moment, in dem ich mich wohlig in das Kissen neben mir kuscheln konnte und nur die leisen Stimmen aus dem Fernseher vernahm, während ich daran dachte, wie lange ich eigentlich schon in der Schwebe hing.
Das Festival war nun rund einen Monat her. Ein Monat, in dem ich völlig von meiner Heimat abgeschottet war und meine ganze Zeit in Texas verbrachte. Keine teure Privatschule, keine Arbeit, keine Kosten, keine Pflichten. So wie ein Jugendlicher seine Ferien eben verbringen sollte. Und obwohl ich das eigentlich genießen sollte, schien es gleichzeitig so befremdlich zu sein. Schließlich hatte ich mich sonst immer um alles gekümmert und jetzt erschien alles so nutzlos. Vorher hatte ich mich immer leicht ablenken können, aber jetzt war ich meinen brennenden Gedanken völlig ausgeliefert. Und ich verstand jetzt erst so richtig, dass ich eigentlich nie gelernt hatte, wie man wirklich damit umging.
Als ich an dem Samstag nach dem Festival mitten in der Nacht hier angekommen war, war meine ganze Welt zusammengebrochen. Ich hatte alles verloren, was mir Zuhause lieb gewesen war. Noch nie zuvor war ich so einsam gewesen. Ich hatte alles in den Armen meines Vaters rausgelassen und mich voll und ganz geöffnet. Unschwer konnte ich mich daran erinnern, wie Amber hinter uns die Treppen heruntergekommen war und schnell dafür gesorgt hatte, dass ich erstmal reinkam und mich hinsetzen konnte. Trotzdem hatte ich den Arm meines Vaters nicht loslassen können und das für weitere Stunden. Ganz vorsichtig hatte Amber sich um mich gekümmert, während mein Vater einfach nur da war und kein Wort sagte. Und wahrscheinlich hatte ich mich noch nie zuvor so sehr geöffnet, wie in dieser langanhaltenden Stille, die aber trotzdem so laut zu sein schien. Erst als die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster zu sehen gewesen waren, hatte mein Vater erstmalig wieder gesprochen, während meine riesige Mauer völlig zerfallen war. "Du kannst so lange bleiben wie nötig, Manu.", hatte er mit rauer Stimme geflüstert. Bis jetzt hatte ich immer noch nicht herausgefunden, was das wirklich bedeutete. Woher sollte ich jemals wissen, wie lange 'wie nötig' sein würde?

Lost In Lies | KürbistumorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt