Kapitel 2

300 20 0
                                    

Liam

Ein Jahr später

Genervt sehe ich aus dem Fenster unseres Wagens und versuche zu ignorieren, dass ich gerade auf engstem Raum mit meinem Vater festsitze. Mit meinem Vater, mit dem ich seit über ein Jahr kein Wort mehr gewechselt habe.

Im Wagen herrscht eine angenehme Stille, da keiner von uns beiden ein Wort sagt. Nur das Radio ist leise im Hintergrund zu hören. Ich werfe einen Blick auf mein Handy und stelle erleichtert fest, dass wir in etwa fünf Minuten da sein müssen. Dass ich ihm dann endlich wieder aus dem Weg gehen kann.  Ich könnte mich innerlich dafür ohrfeigen, mich heute selbst in diese scheiß Situation gebracht zu haben.

Denn ausgerechnet heute hatte ich verschlafen. Am ersten Tag des Abschlussjahres. Hatte den Bus verpasst und keine andere Wahl gehabt, als mit meinem Vater mitzufahren, wenn ich am ersten Tag nicht zu spät kommen wollte. Es war sein Arbeitsweg und was blieb mir anderes übrig. Ich hatte bereits zehn Minuten an der Haltestelle gewartet, in der Hoffnung, dass vielleicht doch noch ein Bus auftaucht, doch das war verschwendete Zeit gewesen. Der Einzige, der plötzlich mit seinem Wagen vor mir aufgetaucht und mit einem kopfnicken richtung Beifahrersitz gedeutet hatte, war mein Vater gewesen. Dabei war es mir die letzten zwei Tage erfolgreich gelungen, ihm aus dem Weg zu gehen. Mit dieser Aktion hatte ich alles zunichte gemacht. Doch früher oder später musste es so kommen.  Schließlich trennen uns seit zwei Tagen nicht mehr hunderte Kilometer, sondern nur noch Türen voneinander. Und als Rektor der Middleton High werde ich ihm selbst in der Schule nicht aus dem Weg gehen können.  Dennoch nehme ich mir fest vor, ihn weiterhin so gut es geht zu ignorieren.

Doch als wir auf den Parkplatz der Middleton High einbiegen, scheint er das Schweigen nicht mehr länger auszuhalten.

,,Das kann so nicht weiter gehen, Liam", reden er auf einmal drauf los und ich verdrehe die Augen. Ich hatte gehofft, dass er auch die letzten Minuten still sein kann.
,, Wir müssen früher oder später darüber reden."

Die Stimme meines Vaters klingt unsicher. Beinahe niedergeschlagen. Doch ich lasse mich nicht weich kriegen. Ich sehe ihn nicht an und möchte am liebsten nie wieder mit ihm reden müssen. Er soll einfach wieder aus meinem Leben verschwinden, so wie er es schon einmal getan hatte.

Ich ignoriere ihn und hoffe, dass er mich  wieder in Frieden und mich einfach nur aussteigen lässt. Doch er fährt an jedem freien Parkplatz vorbei. 

,,Ich weiß, dass ich einen großen Fehler gemacht habe. Ich wollte dir und deiner Mom nie weh tun. Ich würde die Zeit zurückdrehen, wenn ich das könnte."

Ich spüre seinen Blick auf mir ruhen, doch mein Blick ist weiter starr geradeaus gerichtet.

,, Sag mir, wie ich es wieder gut machen kann? Was ich tun kann, dass du mir verzeihst? Ich ertrage den Gedanken nicht, dass du mich hasst."

Ich schnaube und werfe ihm nun doch einen eiskalten Blick zu. In mir kocht es und ich balle meine Hände zur Faust. Denn es gibt nichts, aber rein gar nichts, dass er tun könnte, damit ich ihm verzeihe. Ihm verzeihe, dass er unsere Familie zerstört hatte. Zerstört, in dem er sich vor einem Jahr mit einer 22 Jährigen Stundentin in seinem Büro vergnügte. Dass er meine Mom damit nicht nur betrogen, sondern auch gedemütigt hatte. Dass sie am Boden zerstört war und ich mit ihr zusammen nach Chicago ziehen und meine Freunde verlassen musste. Dass ich von einem auf dem anderen Tag alleine dastand und mich um meine Mom kümmern musste. Meine Mom, die in ein tiefes depressives Loch gefallen war. Ein Jahr lang hatte ich das Gefühl, mich selbst verloren zu haben. Und dann erlaubte er sich vor zwei Monaten die Dreistigkeit, bei uns in Chicago aufzutauchen und meiner Mom irgendeine Entschuldigung vorzuheucheln. Sie anbettelte, wieder zu ihm zurückzukommen. Und so naiv wie meine Mutter war, hat sie diesem Mistkerl vergeben und war am Samstag wieder mit mir hierher zurückgezogen. Doch ich werde ihm nie vergeben.

I need you to save meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt