Kapitel 19

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Liam

Ablenkung. Das ist das, was ich am nächsten Morgen brauche, weshalb ich mich in der Freistunde ins Musikzimmer begebe und Klavier spiele. Ich versuche mich auf die Musik zu konzentrieren und nicht länger über Emma nachzudenken, doch es gelingt mir einfach nicht.

Denn ich hasse mich dafür, gestern nicht besser aufgepasst und sie durch meine Berührung in Panik versetzt zu haben. Dass ich sie dadurch wahrscheinlich für immer verloren habe, denn sie hat auf alle meine Anrufe und Nachrichten bislang nicht reagiert. Sie ist heute auch nicht zur Schule gekommen, weshalb ich mir Sorgen mache und es wahnsinnig bereue, gestern nicht bei der Sache gewesen zu sein.

Ich atme entmutigt aus, während ich ein neues Stück beginne und versuche, all meine Emotionen in das Stück fließen zu lassen. Doch plötzlich nehme ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr, weshalb ich mit dem Spielen innehalte und zur Tür sehe. Auf den Blick meines Vaters treffe, der am Türrahmen lehnt und mich beobachtet.

,,Ich habe dich seit Jahren nicht mehr spielen gehört und ich bin immer wieder sprachlos, wenn ich feststelle, wie gut du spielen kannst", lobt er mich stolz und schenkt mir ein Lächeln,, Man möchte dir ewig zuhören und ich wünschte, wir hätten dir damals den Unterricht nicht wegnehmen müssen, denn ich bereue das zutiefst. "

Ich atme genervt aus, da ich auf sein Lob und seine Entschuldigung verzichten kann. 

,, Erinnerst du dich noch, dass du früher immer auf die Juilliard gehen wolltest", fängt er nun auch wieder das Thema College an. ,,Du hast jahrelang von nichts anderem geredet und ich bin mir ziemlich sicher, dass du mit deinem Talent dort aufgenommen werden würdest. Du musst dich nur dort bewerben und..."

Doch ich lasse ihn nicht ausreden, denn ich möchte seinen verdammten Rat nicht, weshalb ich ihn finster ansehe und meine Hände dabei zu Fäusten balle.

,,Halt dich doch endlich aus meinem Leben raus, verdammt nochmal!", fahre ich ihn lautstark an und er zuckt erschrocken zusammen,,Wie oft soll ich dir noch klarmachen, dass ich dich nicht mehr in meinem Leben haben will und du dir deine Ratschläge sonst wo hinstecken kannst! Für mich bist du gestorben! Kapier das endlich!"

Ich habe meiner Wut freien Lauf gelassen und erkenne den gekränkten Blick meines Vaters, da meine Worte ihn getroffen zu haben scheinen. 

,,Du hast recht, Liam. Ab heute werde ich mich aus deinem Leben raushalten. Du hast erreicht, was du wolltest."

Mit diesen Worten dreht er sich um und verlässt den Raum, weshalb ich mit meinen harten Worten genau das erreicht habe, was ich wollte. Doch da ist ein kleiner Teil in mir, der glaubt, zu weit gegangen zu sein, weshalb ich mir frustriert mit der Hand durch die Haare fahre. Ich versuche, die Situation von eben zu vergessen, in dem ich einfach weiterspiele, als mich ihre Stimme plötzlich innehalten lässt.

,,Du weißt, dass du zu weit gegangen bist oder?", fragt Emma mich vorwurfsvoll, weshalb ich mich zur Tür wende und in ihr enttäuschtes Gesicht sehe. Ich realisiere, dass sie die Situation von eben mitbekommen haben muss und es ist mir mehr als unangenehm, weshalb ich erstmal keinen Ton herausbringe. ,,Tut mir leid, dass ich gelauscht habe, aber ich konnte nicht anders. Ich habe verschlafen und bin daher heute erst später zur Schule gekommen. Ich wollte die Freistunde nutzen, um mit dir zu reden, weshalb ich dich gesucht und die Musik gehört habe. Doch ich wollte das Gespräch zwischen dir und deinem Dad nicht stören, weshalb ich gewartet habe."

Ich fahre mir wieder schuldbewusst durch die Haare, da ich mich meinem Vater gegenüber ziemlich mies verhalten habe.

,,Und jetzt willst du mir sagen, dass ich ein Arsch bin? Keine Sorge. Das weiß ich selbst", gebe ich zu, weshalb Emma näher auf mich zukommt.

,, Du bist kein Arsch, Liam", beruhigt sie mich. ,, Dein Vater hat dich sehr verletzt und du möchtest ihn für seinen Fehler bestrafen, in dem du ihn von dir stößt. Doch in Wahrheit verletzt du damit nicht nur ihn, sondern auch dich selbst, da dir dein Vater noch immer sehr wichtig ist. Denn du hast dein ganzes Leben lang zu ihm aufgesehen und du konntest mit ihm über alles reden. Dass ausgerechnet dieser Mensch dich und deine Mom sehr verletzt hat, ist etwas, womit du nicht umgehen kannst und jetzt möchtest du ihn einfach aus deinem Leben streichen, um es ihm heimzuzahlen und um nicht erneut von ihm verletzt werden zu können. Aber damit tust du dir keinen Gefallen, da du ihn noch immer liebst und ihn in deinem Leben brauchst auch wenn du es nicht zugeben willst."

Ihre Worte dringen zu mir durch und lösen ein Chaos in mir aus, da ich weiß, dass sie recht hat und mir mein Vater nie wirklich egal sein wird. Das ich mir was vormache, wenn ich das Gegenteil behaupte und doch kann ich ihm einfach nicht vergeben.

,,Und weswegen wolltest du wirklich mit mir sprechen?", versuche ich niedergeschlagen das Thema zu wechseln, da ich einfach nicht länger über meinen Vater sprechen möchte.

,,Ich wollte mich für gestern entschuldigen", gesteht sie mir, weshalb ich sie überrascht ansehe.

,, Wenn sich jemand entschuldigen sollte, dann bin ich das. Schließlich habe ich dich berührt", gehe ich verdutzt auf ihr Geständnis ein, doch sie schüttelt den Kopf.

,,Nein, Liam. Du musst dich nicht  entschuldigen, denn du hast nichts falsch gemacht. Kein Mensch sollte lernen müssen, einen anderen nicht zu berühren. Ich darf das nicht von euch verlangen und ich hätte dich gestern nicht ignorieren dürfen, nur weil ich mich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Das war ein Fehler gewesen und ich bin dir so unendlich dankbar dafür, dass du mich davor bewahrt hast, von der Panik mitgerissen zu werden. Denn ohne dich hätte ich das gestern nicht geschafft und mir ist klar geworden, dass ich durch dich wieder Hoffnung bekommen habe. Hoffnung, dass ich eines Tages wieder Berührungen ertragen und ein normales Leben führen kann. Denn du hast mir gezeigt, dass das möglich ist. Du warst mein Anker, mein sicherer Hafen, der mich vor dem Ertrinken bewahrt hat," gesteht sie mir mit sanfter Stimme und durch ihre Worten schafft sie es, mir heute zum ersten Mal ein Lächeln zu entlocken.

,,Heißt das, dass du mich heute zu Moes begleiten wirst?", frage ich sie daher hoffnungsvoll, weshalb sie mein Lächeln erwidert.

,,Wie gesagt", antwortet sie mir und zwinkert mir zu. ,,Zu Moes würde ich nie nein sagen."

I need you to save meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt