Kapitel 5

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Nick

Der Rest des Schultages hatte sich beinahe unendlich in die Länge gezogen. Zum Großteil lag das einfach daran, dass ich mit meinen Gedanken ganz woanders war und von Schuldgefühlen erdrückt wurde. Denn ich fühlte mich schuldig, weil ich meinen besten Freund monatelang belogen und ihn dadurch in eine unangenehme Lage gebracht hatte. Ich hätte wissen müssen, dass er heute mit Emma reden würde und es zu dieser Situation in der Pause hatte kommen müssen, da er einfach nicht bescheid wusste. Und das meinetwegen. Weil ich ihn damals nicht noch mehr Sorgen bereiten wollte, als er eh schon gehabt hatte. Noch mehr Menschen, um die er sich hätte kümmern müssen. Doch ich habe ihn dadurch nur noch mehr geschadet. Das ist mir heute klar geworden, weshalb ich mich auf dem Nachhauseweg kaum auf den Verkehr konzentrieren kann.

,,Alles okay?", fragt Sarah mich besorgt, als ich immer noch auf die Grüne Ampel starre und dafür lautes Hupen der Autos hinter mir kasiere. Ich hatte in Gedanken versunken gar nicht gemerkt, dass ich bereits hätte weiterfahren können. Ich lege daher schnell den Gang ein und schaffe es gerade noch über die Ampel, doch die Autos hinter mir haben weniger Glück.

,,Du bist mit deinen Gedanken ganz woanders,oder?"

Ich spüre Sarahs Blick auf mir ruhen und bringe ein Nicken zustande. Versuche mich wieder auf den Verkehr zu konzentrieren und schaffe es, den Rest der Fahrt nicht über Emma oder Liam nachzudenken. Doch als wir vor Sarahs Haus stehen bleiben, scheint sie genau diesen Thema ansprechen zu wollen.

,,Du hast es ihm heute erzählt oder?", fragt sie mich zögerlich, während sie sich mir zuwendet und ich den Motor abstelle.

,,Das habe ich", gebe ich frustriert zu und wünschte, ich hätte damals auf Sarah gehört und Liam bereits vor einem Jahr davon erzählt.  Es hätte alles so viel leichter gemacht.

,,Wie hat er reagiert?"

Ich seufze und lehne mich niedergeschlagen im Sitz zurück. ,, Er ist ausgerastet und hat mir geworfen, dass ich es ihm damals schon hätte sagen müssen."

Wieder sehe ich seinen enttäuschten Blick vor mir und wie wütend er gleichzeitig auf mich gewesen war.

,,Hast du etwas anderes erwartet?", wirft Sarah mir vor. ,, Denn es war falsch, dass wir ihn angelogen haben."

,,Ich weiß", kann ich ihr mit schwacher Stimme antworten. Ich würde es rückgängig machen, wenn ich könnte. ,,Ich glaube, er ist anschließend zu Emma gefahren.  Hoffentlich hat er es dadurch nicht noch schlimmer gemacht", teile ich ihr meine Sorge mit, doch auf Sarah Gesicht erscheint ein aufmunterndes Lächeln.

,,Ich glaube, wenn es einen Menschen gibt, der Emma helfen kann und der ihr gut tut, dann ist es Liam", versucht sie mich zu beruhigen und ich weiß, dass sie recht hat. Ich kann aber nicht verhindern, dass bei diesem Gedanken leichte Eifersucht von mir Besitz ergreift. Doch ich versuche, dieses Gefühl zu verdrängen, denn es steht mir nicht mehr länger zu.

,,Hast du ihm auch erzählt, was in dieser Nacht noch passiert ist? Weshalb Emma die Party verlassen hatte?", fragt sie mich nun besorgt und ich spüre sofort Gewissensbisse in mir.

,,Nein", gebe ich schuldbewusst zu. ,,Ich glaube, dass würde er mir nie verzeihen."

Ich fühle mich so feige, doch ich konnte mich bislang nicht dazu durchringen, Liam davon zu erzählen.

,,Er wird uns beide hassen", stellt Sarah deprimiert fest. ,,Doch er wird es früher oder später eh erfahren. Daher solltest du es ihm sagen."

Ich schließe die Augen und fühle mich dazu einfach nicht fähig. Doch ich muss es tun, weshalb ich hoffe,  mich die Tage dazu durchringen zu können.

Eine Weile schweigen wir, da wir vermutlich beide in unseren Gedanken versunken sind.

,,Wir haben einen großen Fehler gemacht, Nick", bricht Sarah schließlich das Schweigen und ich sehe, dass sie mit den Tränen kämpft. ,,Wie konnten wir ihr das antun? Wir sind schuld, an dem was passiert ist."

Diese Erkenntnis raubt mir jeden Tag fast den Verstand, den ich weiß, dass es stimmt. Ich hatte mir darüber schon tausende Male den Kopf zerbrochen.

,,Sie fehlt mir so", gibt sie mit gebrochener Stimme zu und ich kann nicht anders, als sie in den Arm zu nehmen.

,,Ich auch", gebe ich mit schwacher Stimme zu und wünsche mir nichts mehr auf der Welt, als diese Nacht rückgängig machen zu können.

Eine Weile halte ich sie in den Armen und versuche ihr Trost zu spenden, doch ich fühle selbst, dass mich die Situation noch immer belastet. Denn ich sehe immer wieder Emma vor mir, wie sie entblößt und kaum noch atmet vor mir auf den Boden liegt. Erinnere mich an den verzweifelten Gedanken, sie für immer verloren zu haben.

Als Sarah sich von mir löst, treffen sich unsere Blicke und wie immer verliere ich mich in ihren Augen. Ich kämpfe mit aller Kraft dagegen an, meine Gefühlen zu offenbaren und meine Lippen auf ihre zu legen. Ich sehne mich aber sosehr danach, sodass es mir beinahe die Luft zum Atmen raubt.

,,Ich sollte jetzt gehen", bringt Sarah gequält hervor und öffnet die Tür. ,,Danke, dass du mich heim gebracht hast."

Mit diesen Worten verabschiedet sie sich von mir und schließt die Tür, während ich mit quälenden Schuldgefühlen im Auto zurückbleibe.

Es dauert eine Weile, bis ich das Chaos in meinem Inneren einigermaßen unter Kontrolle habe, bevor ich schließlich weiterfahren kann.

Zuhause angekommen stelle ich fest, dass das Auto meines Bruders vor der Einfahrt steht. Eigentlich sollte Luke in Yale sein. Sein drittes Semester hatte heute begonnen, doch genau diesen finde ich zockend im Wohnzimmer vor.

,,Was machst du denn hier?", begrüße ich ihn verwirrt und er wendet sich nicht von seinem Spiel ab.

,,Dir auch ein freundliches Hallo, Bruderherz", erwidert er gelangweilt. ,,Ich dachte mir, ich erfreue dich und unsere Alten mal wieder dauerhaft mit meiner Anwesenheit."

Ich stelle mich neben ihn und verschränke die Arme vor der Brust, während er noch immer auf der Couch sitz und sich nicht vom Spiel abwendet.

,,Soll das etwa heißen, dass du das Studium geschmissen hast?", frage ich ihn schockiert, wobei ich damit eigentlich hätte rechnen müssen. Luke hatte den High-School Abschluss nur gerade so geschafft. In Yale wurde er nur aufgenommen, weil unser Onkel dort als Rektor tätig ist. Es war daher nur eine Frage der Zeit gewesen, bis auch sein guter Name nicht mehr ausreichend war, um Luke an der Uni zu halten. Dieser hatte nämlich keinerlei Anstalten gemacht, auch nur ansatzweise gut abzuschneiden. Bis auf Partys und Alkohol hatte er dort sonst nichts im Kopf gehabt.

,, Tu nicht so überrascht", weist Luke mich zurecht. ,,Ich hab von Anfang an klar gemacht, dass der Saftladen nichts für mich ist."

Ich bin trotzdem stockwütend. Schließlich hatte er einen anderen Schüler den Platz weggenommen. Jemanden der das Studium sicherlich geschätzt hätte. Schließlich war es keine einfache Sache, in Yale aufgenommen zu werden. Nicht jeder hat das Glück, einen Freifahrtschein für Yale in der Tasche zu haben. Doch mit Luke zu diskutieren macht sowieso keinen Sinn. Wenn er sein Leben versauen will, kann er das gerne tun. Ist nicht meine Sache.

,,Willkommen zuhause", werfe ich ihm gereizt an den Kopf, bevor ich nach oben in mein Zimmer verschwinde und die Tür hinter mir zuknalle. Lukes Heimkehr hat nicht gerade positiv zu meiner heutigen Laune beigetragen. Denn schließlich bedeutet das, dass er mir von nun an wieder mit seiner Nullbock Einstellung und seinen Tyraneien permanent auf die Nerven gehen wird.

Doch ich versuche mir darüber nicht auch noch den Kopf zu zerbrechen. Ich hatte es bereits 17 Jahre mit ihm ausgehalten. Da werde ich das nächste Jahr, bis ich selbst aufs College gehe, auch noch überstehen.

Im Gegensatz zu ihm werde ich Yale nicht als selbstverständlich nehmen, denn ich
werde dieses Schuljahr hart dafür arbeiten. Und ich werde versuchen, meine Freundschaft zu Liam wieder aufzubauen. Reparieren, was ich durch mein falsches Handeln zerstört habe. Und vor allem möchte ich eines.

Nämlich dafür sorgen, dass auch Emma mir eines Tages vergeben kann.

I need you to save meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt