2 - Eine gefallene Heldin

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„Deine ewigen Ego-Trips gehen mir gewaltig auf die Nerven!", rief Jan Korte ihr hinterher. Mit schnellen, bestimmten Schritten ging sie den Flur entlang. Links und rechts lagen die Büros ihrer Fraktionskollegen. So manch ein Mitarbeiter sah neugierig auf, als die beiden Personen an den geöffneten Türen vorbei rauschten.

„Diese Partei hat jahrelang sehr gut von meinen Ego-Trips leben können.", erwiderte Sahra Wagenknecht und passierte den Fraktionssaal, um zu den Aufzügen zu gelangen. Ungeduldig drückte sie die Taste, um den Fahrstuhl zu rufen. Jan hatte sie mittlerweile eingeholt.

Sahra war einiges gewohnt. Flügelkämpfe, persönliche Angriffe, Verleumdungen... aber dass man ihr jetzt das miese Wahlergebnis der Linken in die Schuhe schob war einfach unglaublich. Auf welchem Parteitag wurde eigentlich der Beschluss gefasst sie zum Sündenbock für all die Dinge zu erklären, die in der Partei schief liefen?

„Sollen wir dir etwa dankbar sein? Scheiße, seit Jahren bringst du uns nur noch negative Schlagzeilen ein. Du bist sowas wie ein AfD-Idol geworden! Alle zwei Tage lese ich irgendwas von Hufeisentheorie und ob ‚Frau Zarenknecht' jetzt endlich zu Chrupalla und Weidel übergelaufen ist", warf Jan ihr vor.

Immer die verdammte AfD-Keule. Die schwangen sie ihr gegenüber immer, wenn sie keine anderen Argumente mehr hatten und das war ziemlich häufig der Fall.
Sahra war nicht dumm. Sie wusste, dass ihre Meinung kontrovers war, aber sie würde jetzt nicht anfangen mit dem Strom zu schwimmen, niemals.

Ihrer Meinung nach hatte die Linke in den letzten Jahren ihre ursprünglichen Werte und Ziele vernachlässigt. Himmel, sie waren nur noch der schwache Abklatsch einer Arbeiterpartei. Rosa Luxemburg würde sich im Grab umdrehen.

„Du warst vielleicht mal die Kanzlerin der Herzen, aber das ist vorbei, Sahra! Wenn es nach mir ginge, dann wärst du schon längst aus der Fraktion geflogen. Wir müssen ja froh sein, dass wir überhaupt noch eine Fraktion haben bei all den Lagern, die mittlerweile entstanden sind. Und daran bist du nicht ganz unschuldig!", giftete Jan unbeirrt weiter. Wann kam endlich dieser verdammte Aufzug? „Jan, ich habe jetzt wirklich keinen Nerv für diesen Mist. Nur weil IHR euch ideologisch verrannt habt werde ich sicherlich nicht den Kopf dafür hinhalten. Wir hatten mal 11%, OHNE diesen ganzen Lifestyle-Linken-Quatsch, den ihr euch seit neustem auf die Fahnen schreibt!", schoss Sahra zurück und knirschte mit den Zähnen.

Es war nicht so, dass Sahra nicht kritikfähig gewesen wäre, aber das war keine konstruktive Kritik, das war einfach nur unverschämt. Jan schüttelte den Kopf. Wütend ging er einen Schritt auf Sahra zu, die unwillkürlich zurückwich. „Warum bist du nach deinem Burn-Out eigentlich zurückgekommen? Wenn alles so mies ist und du unsere Werte nicht mehr teilst, dann geh doch endlich, Sahra. Mein Gott, wann hat dich eigentlich dein Anstand verlassen? War das vor oder nachdem du durchgedreht bist? Nichtmal deine eigene Psyche kommt mehr mit deinem Schwachsinn klar, geschweige denn die Gesellschaft."
Seine Worte trafen.

Sahra wurde von vielen Leuten als mutig bezeichnet, weil sie offen zugegeben hatte, dass sie ausgebrannt war. Sie sei ein Vorbild, weil sie sich trotz ihrer mentalen Probleme nicht unterkriegen ließ und zurück ins Leben gekämpft hatte. Sahra selbst fühlte jedoch keinen Mut, wenn sie an ihre Krankheit dachte. Das war es nämlich. Eine Krankheit. Eine Anomalie in ihrem sonst so perfekt arbeitenden Hirn. Sie fühlte nichts als Scham. Scham und die Angst zu versagen. Immer wieder dröhnte eine Stimme in ihrem Kopf, dass sie nicht gut genug war, alles falsch machte und zu schwach für die Arbeit als Politikerin war. Zu schwach, um dem allen Stand zu halten.

„Hörst du dir eigentlich selbst zu, Jan? Du bist der Einzige, der hier Anstand vermissen lässt", sagte Sahra mit brüchiger Stimme. Sie musste hier dringend raus. Sahras Sicht verschwamm, aber sie würde nicht vor Jan Korte anfangen Gefühle zu zeigen. Sicher nicht.

Irgendwo in BerlinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt