47 - Im Zeitraffer

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16.12. - Plenarsaal

Bärbel Bas legte zitternd einen Finger auf den kleinen Knopf, der ihr Mikrofon aktivierte.
„Dann kommen wir zur Abstimmung über den Antrag der Regierungsfraktionen zur Änderung des Bundeshaushalts für das kommende Jahr. Der zuständige Ausschuss empfiehlt den Antrag abzulehnen." Bärbel atmete tief durch. Die Stunde der Wahrheit. Selten hatte sie die Ränge des Plenarsaals in der letzten Sitzung vor Weihnachten so voll gesehen.

„Wer stimmt für den Antrag?", fragte sie und es fühlte sich so an, als kämen die Worte nicht aus ihrem Mund. „Das ist die Fraktion die Linke und die SPD", stellte sie fest. Rufe wurden in den Reihen der SPD laut.
„Wer stimmt gegen den Antrag?" Bärbel hatte die Stimme etwas erhoben.

Nun brach heilloses Durcheinander aus. Rufe und Pfiffe aus der SPD-Fraktion. Lars Klingbeil schrie Renate Künast an, die die Arme verschränkt hatte und stur geradeaus blickte. Jürgen Trittin hingegen brüllte zurück. "Ihr könnt doch nicht gegen unseren gemeinsamen Antrag stimmen!", schrie Saskia Esken so laut, dass Andrea Nahles vor Neid erblasst wäre.

Aus den Reihen der AfD dröhnte schadenfrohes Gelächter und einige Unionspolitiker schüttelten die Köpfe. Von oben konnte Bärbel die zumeist versteinerten Blicke der FDPler sehen. Niemand von ihnen ließ sich eine Gefühlsregung anmerken. Allen voran Linda Teuteberg, die konzentriert auf einen Zettel vor ihr starrte. Die sah, so fand Bärbel, in den letzten Tagen gar nicht so frisch und strahlend aus wie sonst. Und ansonsten, das musste die Sozialdemokratin zugeben, sah Linda verdammt gut aus.

Den Gedanken an Teuteberg verdrängend, läutete die Präsidentin die Glocke. „Ruhe! Auch da drüben bei der SPD!" Es herrschte der absolute Ausnahmezustand. „Ordnungsruf! Ordnungsruf!", konnte sie die Stimme von Beatrix von Storch irgendwo in der Menge ausmachen.
„Also... Dagegen stimmen die Fraktionen der Grünen, FDP, CDU/CSU und AfD. Enthaltungen? Keine. Dann ist dieser Antrag abgelehnt."

Auf der Regierungsbank erhob sich Olaf Scholz. Er sagte etwas, das Bärbel über den Lärm nicht verstehen konnte, doch nach seinen Worten tauschten Christian Lindner und Robert Habeck einen besorgten Blick und folgten ihm aus dem Plenarsaal. Bärbel ahnte böses.

Linda sah von ihrer Arbeit auf und hinüber in die Reihen der Linken. Ganz kurz traf ihr Blick den von Sahra. Pure Enttäuschung sprach aus ihren Augen, die der Liberalen den Hals zuschnürte. Kurz darauf brach Sahra den Blickkontakt ab und verließ den Plenarsaal. Es sollte das letzte Mal sein, dass die beiden einander in diesem Jahr gesehen hatten.

24.12. - Görsdorf
„Schade, dass Sahra nicht konnte!", sagte Leopold zum 20. Mal an diesem Tag und führte seine Frau aus der kleinen Dorfkirche. Linda und ihr Bruder Alexander (Name frei erfunden) folgten ihren Eltern. Alexanders Frau Stephanie war mit dem kleinen Sohn Zuhause geblieben.

„So ein schöner Gottesdienst, das hätte ihr gefallen", behauptete Lindas Vater. Sie selbst bezweifelte das stark, sagte jedoch nichts dazu.
Heute Abend vermisste sie Sahra besonders. Vor allem Alex und Stephanie mit ihrem Sohn zusammen zu sehen tat ihr so unfassbar weh. Andauernd dachte sie darüber nach wie sie die Adventszeit mit Sahra hätte verbringen können, wenn sie nicht so dumm gewesen wäre.

Sie sah sich mit ihr über Weihnachtsmärkte schlendern, in ihrer Wohnung vor dem Kamin kuscheln und durch die schneebedeckte brandenburgische Landschaft streifen. Vielleicht hätte sie einen Schneeball nach Sahra geschmissen, vielleicht hätte diese die Arme um sie geschlungen und in den Schnee geschubst. Vielleicht hätten sie lachend auf dem kalten Boden gelegen und sich geküsst.

Oder vermisste sie nicht viel mehr Katja? Katja, die gerade in Vechta bei ihren Eltern saß und Weihnachten mit ihren Jungs und ihrem Ex-Mann verbrachte. Szenen, wie sie zusammen einen Weihnachtsbaum schmückten spielten sich vor ihrem inneren Auge ab. Katja hätte jede Gelegenheit genutzt, um sie zu küssen, dafür brauchte sie keinen Mistelzweig. Sie hätte auf dem Rückweg von der Kirche ihre Hand gehalten und sobald es Streit gegeben hätte, der zu Weihnachten irgendwie dazugehörte, etwas unglaublich reflektiertes und beruhigendes gesagt, was nur zu Folge hatte, dass Linda sich ein kleines Stück mehr in sie verliebte.

Irgendwo in BerlinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt