10 - Vertrauensprobleme

292 28 37
                                    

"Das ist eine absolute Scheiss-Idee!", protestierte Gyde leise, während sie und Linda durch die Flure liefen. Die beiden waren auf dem Weg zum Mittagessen. „Hör mal, Sahra ist ja nett und all das, aber wie sicher bist du dir, dass du ihr vertrauen kannst? Letztendlich seid ihr Konkurrentinnen und wenn sie sich eines Tages in die Ecke gedrängt fühlt, dann wird sie diese Information über dich und Katja vielleicht genauso nutzen wie Weidel es tun würde. Oder auch Christian." Linda hatte ihrer Kollegin gerade eröffnet, dass sie Sahra von Katja erzählen wollte.

Linda schüttelte den Kopf. "Sahra und ich sind Freunde. Ich verstehe ja, dass du dir Sorgen machst Gyde, aber du kennst sie einfach nicht so wie ich. Sie würde das nie tun!" Ehrlicherweise war Linda sich nach dem vergangenen Abend und der Sendung bei Anne Will auch nicht mehr sicher wie gut sie Sahra wirklich kannte. Offensichtlich lief irgendwas zwischen Sahra und Oskar gerade schief und die Weidel hatte es gewusst. Ganz im Gegensatz zu Linda.

Die halbe Nacht hatte sie sich den Kopf darüber zerbrochen, warum Sahra ihr nichts von ihren Eheproblemen erzählt hatte und wieder hatte sie die starke Befürchtung, dass Sahra ihr schlicht und ergreifend nicht vertraute. Schon den ganzen Vormittag verpasste ihr diese Erkenntnis immer wieder einen Schlag in die Magengrube.

Die beiden Frauen betraten den Fahrstuhl, in dem sie glücklicherweise allein waren. Gyde lehnte sich an die verspiegelte Wand und rieb sich mit zwei Fingern über die Augen.

"Hör mal, ich verstehe vollkommen, dass du dich nach jemandem in deinem Leben sehnst Linda, aber wenn es daran liegt, dass du Katja nicht-" Linda unterbrach Gyde. "Das hat doch damit nichts zu tun! Ich war diejenige die gesagt hat, dass Katja und ich keine Chance mehr haben! Jedenfalls nicht solange Sahra da ist und ich nicht weiß was das zwischen ihr und mir ist", sagte sie und klang dabei aufbrausender als beabsichtigt. Sie wollte Katja nicht durch Sahra ersetzen. Ganz davon abgesehen, dass es sehr viel einfach gewesen wäre an ihrer Beziehung mit Katja zu arbeiten, als herzufinden was auch immer das mit Sahra war.

Gyde sagte nichts. Linda versuchte dem Blick der Rothaarigen auszuweichen, was sich in der kleinen Fahrstuhlkabine als schwierig erwies. "Ich will nur nicht, dass du verletzt wirst, Linda", sagte Gyde schließlich leise. "Ich kenne Sahra wirklich nicht gut genug um zu beurteilen was sie vielleicht fühlt, aber von meinem Standpunkt aus gesehen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass dir das Herz gebrochen wird verdammt hoch."

Linda spürte Gydes Hand auf der Schulter. "Ich kann es dir nicht erklärten, Gyde", sagte sie verzweifelt und hob den Blick wieder zu ihrer Kollegin und Freundin. "Zwischen mir und Sahra da gab es diesen Moment und wenn in meinem Kopf nicht andauernd der Gedanke an Katja gewesen wäre, dann hätte es an diesem Abend..." Linda sprach nicht weiter. "Ich bin einfach so verwirrt." Gyde drückte Linda kurz an sich. „Na komm", sagte sie, als der Fahrstuhl ihre gewünschte Ebene erreichte.

An diesem Punkt war es ohnehin schon zu spät, dachte Linda während sie Gyde aus dem Fahrstuhl folgte. Wenn Sahra nicht so fühlen sollte wie sie, dann würde ihr ohnehin das Herz gebrochen werden. Unabhängig davon, ob Sahra von Katja wusste oder nicht.

Linda und Gyde setzten sich kurz darauf an einen Tisch mit Dorothee Bär und Marie-Agnes. Lustlos stocherte Linda in ihrem Essen herum. Sie war nervös wegen des heutigen Abends und das schlug ihr auf den Magen. Sie war derart vertieft in ihre Gedanken an Sahra, dass sie gar nicht bemerkte, dass diese wenig später ganz real vor ihr stand. "Hey, ist hier noch frei?", fragte die Linke und glitt auf den Stuhl neben Gyde, nachdem diese genickt hatte.

Linda spürte wie ihre Wangen warm wurden. Sah man ihr an, dass sie gerade an Sahra gedacht hatte? Auf einmal fühlte sie sich schrecklich beobachtet. "Schwere Partie gestern bei der Will, was Frau Wagenknecht?", bemerkte Marie-Agnes und auch Dorothee sah Sahra neugierig an. Diese verdrehte genervt die Augen. "Bevor sie fragen: Nein, Oskar tritt nicht in die AfD ein. Ich weiß zwar nicht was seine Pläne sind, aber Faschist werden steht nicht auf seiner Agenda."

"Was sollte das eigentlich bedeute?", fragte Gyde stirnrunzelnd. "Ich meine Weidels ganzes Geschwafel von wegen verschiedene Wege in der Zukunft?" Linda spürte Sahras Blick auf sich. Die beiden sahen einander an. Der Blick der Älteren hatte beinahe etwas entschuldigendes angenommen. "Naja, jetzt ist es ja sowieso schon egal. Weidel hat darauf angespielt, dass Oskar und ich bereits seit ein paar Monaten getrennt leben. Es hat einfach nicht mehr richtig gepasst, aber wir wollten ursprünglich einmal unsere Privatsphäre schützen", erklärte Sahra, während sie die Augen auf Linda ruhen ließ.

Linda spürte wieder diese Enttäuschung in ihrem Herzen. Warum hatte Sahra nichts gesagt? Andererseits wäre es vielleicht auch besser gewesen, wenn Linda nicht erfahren hätte, dass Sahra offensichtlich Single war, denn ein Teil von ihr freute sich diebisch darüber.

"Das tut mir leid", sagte Linda, wobei sie nicht überzeugt klang. "Einfach ekelhaft von der Weidel, dass sie das im Fernsehen auspackt!", empörte sich Dorothee Bär. Sahra nickte. "Da muss ich Ihnen ausnahmsweise mal recht geben, Frau Bär." Marie-Agnes fing an darüber zu spekulieren, woher die Weidel wohl die Information genommen hatte, doch Sahra hörte nur mit halben Ohr hin.

"Es tut mir leid, dass ich dir nichts erzählt habe, Linda", flüsterte sie. Linda schüttelte schnell den Kopf. "Nein, ich verstehe dich schon. Das ist eben etwas Privates." Nichts verstand Linda. Sie hatte Sahra doch auch von ihrer Trennung von Björn erzählt! Waren Freunde nicht genau dazu da? Dass man mit ihnen sprach?

Nach dem Mittagessen begab Gyde sich mit Dorothee Bär und Marie-Agnes noch an die frische Luft. Linda wollte zurück in ihr Büro gehen, damit sie noch einiges an Arbeit erledigen konnte, bevor sie nach Hause fuhr um das Abendessen für sich und Sahra vorzubereiten. Sahra begleitete sie in den Aufzug. Die Stimmung war gedrückt.

Die Linke ergriff das Wort. "Mir liegt auch viel an dir", sprach sie die Worte aus, die Linda vor nun mehr als einer Woche zu ihr gesagt hatte. Linda schloss kurz die Augen. Sie überkam eine winzige Mikroaggression. "Manchmal werde ich aus dir nicht schlau, Sahra", platze es aus ihr heraus und Sahra sah sie überrascht an. "Warum hast du mir nichts gesagt? Ich weiß es geht mich nichts an, aber ich dachte wir sind... Freunde." Linda verzog das Gesicht. Die Angesprochene öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder.

In Linda nahm die Verzweiflung nun Überhand. Ihre ganze Seele schrie danach, dass Sahra doch erkennen möge, wieviel Linda an ihr lag. Wagenknecht war doch sonst so clever! Wieso erkannte sie nicht, dass Linda doch nur für sie da sein wollte? Wieso sah sie nicht, dass Linda sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte? Der Gedanke ließ Tränen in Linda aufsteigen. Würde diese Frau das jemals erkennen? Und würde sie je zu Linda gehören?

Sahra sah, dass Lindas Augen verdächtig glitzerten. „Hey, was ist los?", fragte die Ältere und berührte Linda sanft am Rücken. Schnell blinzelte diese die Tränen weg. „Es ist nichts, eigentlich ist es lächerlich, aber... Du kannst mit doch vertrauen, Sahra!" Sprachlos sah Sahra die Jüngere an. Dann legte sie die Arme um ihren Körper und zog Linda fest an sich. Diese klammerte sich Halt suchend an Sahras Hüfte. Sie hätte ewig so dastehen und den Duft von Sahras Parfüm inhalieren können. Der Moment hatte etwas tröstliches.

„Linda, ich vertraue dir doch, meine Liebe. Es ist nur... ich habe dir nichts gesagt, weil... Ich weiß auch nicht." Linda hob den Kopf und sah Sahra an. Und da war er wieder, genauso ein Moment wie neulich in Sahras Wohnung.

Linda sah Sahra tief in die Augen. Könnte sie nicht für immer und ewig hier stehen und in Sahras Augen schauen? Sahra lächelte hilflos, dann flüsterte sie: „Auszusprechen, dass ich von Oskar getrennt bin, hätte es nur allzu real gemacht. Und wenn Oskar kein Thema mehr ist, dann..." Sahra beendete den Satz nicht, denn die Türen des Fahrstuhls öffneten sich und herein traten Annalena Baerbock und Robert Habeck, die gerade über irgendetwas laut lachten.

Sahra hatte Linda so schnell losgelassen und sanft von sich geschoben, dass diese selbst ganz überrumpelt war. Die beiden Grünen grüßten. Baerbock zwinkerte Linda zu. Die beiden kannten einander durch ihren gemeinsam Wahlkreis näher und verstanden sich ganz gut.

Der Fahrstuhl hielt im Stockwerk der Linken. "Bis heute Abend, Linda", flüsterte Sahra leise in Lindas Ohr. Das Gefühl von Sahras Atem auf ihrer Haut löste eine Gänsehaut bei Linda aus. Am liebsten wäre sie ihr gefolgt. Lauter sagte Sahra: "Einen schönen Tag, Ihnen allen." Sie verließ den Fahrstuhl. Verwirrter als vorher starrte Linda ihr hinterher.

Irgendwo in BerlinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt