32

2.1K 202 84
                                    


Emma:

Das Hotelzimmer sah noch schöner aus, als auf den Bilder. 
"Keine schlechte Wahl, Em.", stellte Nate fest und ließ damit unweigerlich ein Grinsen in meinem Gesicht entstehen.
Gott sei Dank. Es gefiel ihm. Das MUSSTE es auch.
Der Tag musste PERFEKT werden. Denn dieser Ausflug war unsere letzte Chance.
"Ich weiß.", erwiderte ich im arrogantesten Tonfall, den ich zustande brachte.
Wenn Nate wüsste was wir heute noch alles vor hatten, würde er keine weitere Sekunde in diesem Zimmer verschwenden.
Ich hatte für uns sogar eine Besichtigung in einem alten Schiff geplant, obwohl mich dort normalerweise keine 10 Pferde reinbekommen würden.
Was Alex wohl heute tat?
Ich hieß das schmerzhafte Ziehen in meiner Brust willkommen.
Es war mittlerweile ein Teil von mir.
Alex gehen gelassen zu haben hatte etwas in mir verändert.
Vielleicht musstest du ihn erst loslassen um zu begreifen, was du wirklich für ihn empfindest. 
Ich schüttelte energisch den Kopf um die leise Stimme aus meinen Gedanken zu vertreiben.
Schon wieder sah ich diese verflucht blauen Augen und dieses ganz bestimmte Herzensbrecherlächeln vor mir. 
Ich durfte nicht mehr jeden Tag, jede Stunde, jede Minute und jede verdammte Sekunde an Alex denken. Es war so unendlich falsch.
Doch während ich mir auf der einen Seite nichts sehnlicher wünschte, als Alex endlich zu vergessen, ertrug ich gleichzeitig die Vorstellung nicht, jede einzelne Verbindung zu ihm zu verlieren.
Wenn ich an ihn dachte verschwand immerhin für diesen winzigen Augenblick ein kleiner Teil des dunklen Loches, das er in meiner Brust hinterlassen hatte.
Auf diese Weise konnte ich noch immer jeden gemeinsamen Moment, den wir geteilt hatten, durchleben.
Auch wenn es nur längst vergangene Erinnerungen waren, die sich in Dauerschleife in meinen Gedanken abspielten. Es war besser als nichts.
Dennoch änderte all das nichts daran, wie falsch es war so zu fühlen.
Ich musste endgültig mit Alex abschließen.
Egal, wie weh es tat.
Das MUSSTE aufhören.
Das hier MUSSTE funktionieren.
Und da war sie wieder.
Die Angst.
Angst davor, dass dieser Ausflug nichts verändern würde.
Die Angst, dass diese Beziehung falsch war.
Die Angst den Falschen gehen gelassen zu haben.
Angst die Person verletzen zu müssen, die es am Wenigsten verdient hatte.
Damit Nate die Panik in meinen Augen nicht lesen konnte, drehte ich mich schnell weg und tat so, als würde ich mir das Zimmer genauer ansehen.
Tief durchatmen. Ein und Aus.
Alles wird gut. Alles wird gut. Alles wird gut.
Mein Herzschlag verlangsamte sich und die Enge in meiner Brust verschwand.

Plötzlich spürte ich zwei lange Arme um meiner Taille, verlor den Boden unter den Füßen und landete im nächsten Moment auf dem quietschenden Hotelbett. 
Nates Lippen verzogen sich augenblicklich zu diesem ganz bestimmten schelmischen Grinsen, das schon seit unserer Kindheit nach jedem Streich und jeder Neckerei, wie in sein Gesicht getackert war. 
Ein verspäteter Adrenalinschub schoss durch meine Adern und brachte mich so sehr zum Lachen, dass mein Bauch weh tat. "Du Spinner!" 
Nates Grinsen wurde nur noch breiter. "Das hättest du nicht sagen sollen."
Ohne Vorwarnung schmiss sich der dunkelhaarige Junge mit so einer Wucht auf mich, dass mir für einen Moment die Luft wegblieb. 
"Wie kann man nur so ein Fettklops sein?", ächzte ich und versuchte Nate von mir herunterzudrücken.
Und in diesem atemlosen, nach Luft ächzenden Augenblick begriff ich es. 
Nate und ich würden all das überstehen, vollkommen egal, was die Zukunft für uns bereithielt. 
Eine angenehme Wärme breitete sich in mir aus. 
Wir würden nicht daran zerbrechen, denn uns verband viel mehr, als verletzte Gefühle je zerstören könnten.
Nach einigen Sekunden beschloss Nate gnädigerweise mir meine Atemfreiheit zurückzugeben und rollte sich leicht zur Seite. 
Auf einmal lag eine so tiefe Bewunderung in seinem Blick, dass ich Gänsehaut bekam.
Die Leichtigkeit zwischen uns war verschwunden und aus irgendeinem Grund vermisste ich sie sofort. 
Die Stimmung zwischen Alex und mir war auch immer so schnell gekippt und doch fühlte es sich bei ihm ganz anders an. 
Verdammt, warum dachte ich schon wieder an Alex?
Als Nates Blick an meinen Lippen hängen blieb, hielt ich es nicht mehr aus. 
Ich konnte das jetzt nicht. 
Hastig setzte ich mich auf.
"Gewöhn dich bloß nicht zu sehr ans Bett du Faulpelz. Ich habe für heute viel geplant." Meine Stimme klang eigenartig hohl, doch es schien Nate nicht aufzufallen.
Der Knoten in meinem Magen wurde immer größer. 
Ich fühlte mich so verlogen und schuldig, wie noch nie.
Dem liebsten Menschen auf der Welt so viel zu verschweigen war grauenhaft. 
Ich hasste diese Mauer voller unausgesprochener Gefühle zwischen uns.
Ich hasste, dass es allein meine Schuld war, dass sie überhaupt existierte. 
Mit einem Satz war ich auf den Beinen. 
Der plötzliche Drang Nate jetzt sofort alles zu gestehen, was die letzten Wochen in mir vorging, übermannte mich regelrecht. 
"Du musst erstmal alle Kräfte mobilisieren und in die Beziehung stecken. Vielleicht blockiert dich nur das schlechte Gewissen gegenüber Alex."
Rosis Worte hallten mahnend in meinem Kopf wieder. 
Sie hatte recht.
Und obwohl ich immer mehr daran zweifelte, dass die Schmetterlinge, die bei dem kleinsten Gedanken an Alex in meinem Bauch tobten, nur durch so etwas wie ein schlechtes Gewissen verursacht werden konnten; war ich diesen letzten Versuch Nate und mir dennoch schuldig. 
Also schluckte ich die Zweifel hinunter. 
Ich musste versuchen hier und jetzt alles in Ordnung zu bringen. Das war die Chance mich voll und ganz auf Nate zu konzentrieren. 
Einen schlechteren Zeitpunkt um mit ihm über Alex zu reden gab es nicht. 
Ich zwang mich tief durchzuatmen und schlüpfte in meine Sneaker. 
"Wollen wir los? Dir wird unser erstes Ziel heute gefallen. Das garantiere ich dir.", versicherte ich meinem Freund. 
Und ich sollte recht behalten. 

Die SS Great Britain zog Nate sofort in seinen Bann. Wir schlenderten stundenlang durch enge Schiffsgänge und sahen uns alte Kajüten an. Die Faszination mit der Nate diese einfachen Dinge betrachtete war regelrecht ansteckend.
Für ein paar Stunden konnten wir einfach wir sein.
Kein Gedankenkarussel um unsere Beziehung oder Alex.
Keine Zweifel.
Keine Probleme.
Einfach nur Nate und ich.
So wie es schon immer war.
Ich genoss die Zeit mit ihm so sehr, dass ich erst gar nicht bemerkte wie schnell der Zeiger auf meiner Uhr rannte.
"Mist, schon so spät. Wir müssen los.", rief ich entrüstet und zog Nate energisch vom Deck des Schiffes. 
Wenige Minuten später standen wir mit Pinsel und Leinwand bewaffnet in dem "Team-Painting"-Kurs, den ich für uns gebucht hatte. 
Trotz Nates anfänglicher Skepsis entwickelte sich unser gemeinsames Bild zu einem wahren Meisterwerk. 
Und je länger wir miteinander lachten, malten und die Zeit genossen, desto bewusster wurde mir wie unendlich wertvoll es war Nate in meinem Leben haben zu dürfen. 
Er schenkte mir so viel ohne es überhaupt zu merken.
Mein Herz zersprang fast vor Liebe für ihn. 
Doch das reichte nicht.
Es war nicht die Liebe, die er von mir erwartete und die er verdient hatte.
Wenn wir uns für einen Moment nahe waren oder uns zufällig berührten, suchte ich verzweifelt nach Schmetterlingen, nach Herzklopfen oder irgendeiner Art von Kribbeln, doch ich fand einfach nichts. 
Plötzlich legte die Angst ihre kalten Klauen um meine Kehle und drückte zu. 
Das Atmen fiel mir schwer.
Mit einer flüchtigen Geste deutete ich in Richtung Toilette, ließ den Pinsel in den Wasserbecher fallen und schloss mich im Damen WC ein.
Verzweifelt rang ich nach Luft und versuchte die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. 
Es klappte nicht. 
Dieser Tag änderte nichts. 
Ich suchte nach einer Erklärung. Es musste da doch irgendwas geben.
Irgendetwas, was ich tun konnte um diese verdammten Gefühle zu ändern. 
Ich durfte nicht aufgeben. Das durfte nicht alles sein. 
Warum durchzuckten mich bei Nates Berührungen keine Stromstöße?
Warum verflucht war ich nie aufgeregt?
Vielleicht wäre es anders, wenn ich Alex nie getroffen hätte.
Oder wenn Nate und ich uns erst später kennengelernt hätten. 
Wenn wir uns nicht schon von klein auf kennen würden. 
Doch selbst wenn es so wäre, würde ich keine Jahr, nein, nicht einmal eine Sekunde, die wir in der Vergangenheit miteinander erlebt hatten eintauschen wollen. 
Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. 
Wenn ich Schluss machen würde... Ich schluckte, kämpfte schon wieder gegen diese verdammten Tränen. 
Damit würde ich ihm das Herz herausreißen.
Die letzten Stunden waren so unbeschwert und glücklich. 
Nates schlechte Witze, sein verträumter Blick in die Ferne und der Klang seines Lachens.
Es war perfekt. Ich klammerte mich an diese Momente, rief sie mir immer wieder in Erinnerung bis sich mein Herzschlag wieder beruhigt hatte. 
Auch wenn diese Beziehung nicht funktionierte, würde er immer mein bester Freund bleiben. 
Das musste er einfach. 
Wir würden das schaffen. Das war meine unerschütterliche Wahrheit.
Noch ein letzter Kontrollblick in den Spiegel, dann ging ich wieder zu unserem Bild, auf dem mittlerweile zahllose, wunderschöne Blumen in allen Farben erstrahlten. 
Meine Abwesenheit hatte der Leinwand zweifellos sehr gut getan. Nate war unbestreitbar der bessere Künstler von uns beiden. Und das schien nicht nur ich so zu sehen.
Nach etlichen Lobreden der anderen Teilnehmer und sogar unseres Veranstaltungsleiters, fühlte sich für mich nicht mehr alles so düster an, wie es zuerst schien. Der begeisterte Glanz in Nates Augen war Medizin für meine Seele. 
Wir waren so in unseren Gesprächen versunken, dass ich erst gar nicht bemerkte, wie hungrig ich mittlerweile eigentlich war. Dafür war das Loch in meinem Bauch nun umso präsenter. 
"Also ich finde da haben wir uns jetzt echt eine Belohnung verdient. Hast du auch so einen Hunger?" Italienisches Essen wäre jetzt ein Traum. 
Nates Bauch schien das ganz genauso zu sehen. Das laute Knurren war Antwort genug.
Keine halbe Stunde später saßen wir in einem süßen Lokal  namens "Wilsons Restaurant" und aßen die beste Spinatlasagne unseres Lebens. 
Nate wirkte so glücklich und entspannt, wie schon lange nicht mehr. 
Ich hingegen wurde mit jeder Sekunde nervöser, denn die schreckliche Erkenntnis, die dieser Tag mir beschert hatte, wurde immer schwerer zu ignorieren. 






GeneticWo Geschichten leben. Entdecke jetzt