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Überall schwarze Hosen, Hemden und Kleider. In mir sah es noch dunkler aus. 
Die Holzbänke in der keinen Kapelle knarzten wehleidig, als alle Gäste auf ihnen Platz nahmen. 
Ich saß zwischen Rosi und Elias, die über meinen Kopf hinweg immer wieder besorgte Blicke miteinander austauschten. 
Vorne stand eine unscheinbare, braune Urne in einem Meer aus Fotos und Blumen. Ich ertrug es nicht sie anzusehen oder darüber nachzudenken, was ihr Zweck war. 
Nein. Nein. Nein. 
Ich starrte auf meine Hände. Sie waren zu bleichen Fäusten geballt. 

Als der Pfarrer anfing zu sprechen, verstand ich kein einziges Wort. Meine Ohren klingelten, während meine Gedanken mich anschrien. Das war der endgültige Abschied von ihm. Ich war noch nicht bereit dazu. Panik stieg in mir auf. Ich würde nie dazu bereit sein. Die Last auf meinen Schultern wog tonnenschwer.
Immer wieder zuckten meine Augen zu den Fotos auf denen Alex in die Kamera strahlte. Ich quälte mich selbst.
Diese Bilder waren lediglich eine blasse Erinnerung. Sie konnten ihm nicht im Geringsten gerecht werden. Und dennoch waren sie das Einzige, was blieb. Alex war für immer fort. Es war das erste Mal, dass ich diesen Gedanken zuließ und er zerriss mich innerlich. Nie wieder würde ich in sein Gesicht berühren können. Seine weiche Haut unter meinen Fingern spüren.
Nie wieder würde ich seine Stimme oder sein Lachen hören.
Es tat so weh.
So unendlich weh.
Schwere Tränen tropften auf meine Oberschenkel. 
Auf einmal spürte ich zwei schmale Arme um meine Taille. Als ich nach links blickte, sah ich, dass Rosi meinen zitternden Körper mit einen Entschlossenheit festhielt, als wolle sie all die zerbrochenen Teile in mir, mit aller Kraft wieder zusammenfügen. 
Der Druck ihrer Arme holte mich zurück in die Realität. 
Mein Herz schlug mir bis zu Hals, als ich meinen Blick endlich von Alex' Abbildern losriss und wieder auf den Pfarrer richtete. 

"An dieser Stelle möchte ich Alex' einziges, bekanntes Familienmitglied nach vorne bitten. Selbst wenn der engste Kreis sehr klein war, so war die Liebe doch umso größer. Nate, damit gebe ich das Wort an dich." Mit diesen Worten trat der Gottesdiener zur Seite und deutete mit einer auffordernden Geste in Richtung des Rednerpultes. Ich hatte Nate seit dem Abend an dem wir uns getrennt hatten nicht wiedergesehen.
Eine unangenehme Kälte durchströmte mich.
Es waren seitdem 3 Wochen vergangen, doch es fühlte sich so an, als wären es 3 Jahre gewesen. 3 Jahre pure Folter.
Als Nate sich erhob, fiel mir sofort auf, dass er abgenommen hatte. Seine Wangen wirkten eingefallen. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen und wurden von dunklen Ringen gesäumt. 
Er wirkte so erschöpft, wie ich mich fühlte. 
Müde vom Leben. 
Sein Anblick schrie mich an: "Sieh was du mir angetan hast! Du bist an allem Schuld!"
Alles in mir verkrampfte sich.
Ich fühlte mich so elend, dass ich am liebsten auf der Stelle weggerannt wäre. Für immer. 
Elias drückte meine  Hand, doch es half nichts.
Der Schmerz breitete sich bereits, wie Gift in meinem Körper aus. 
Die erwartungsvolle Stille, die sich über die Trauergemeinde gelegt hatte, war kaum auszuhalten. 
Meine Seele stand in Flammen. Tränen liefen unaufhörlich über meine Wangen, doch kein Wasser der Welt wäre in der Lage gewesen das Feuer in mir zu löschen. 
Nate räusperte sich. 
"Ich danke euch allen, dass ihr gekommen seid. Es ist sehr schwer für mich hier vorne zu stehen. Mein Bruder war erst 24 Jahre alt. Er war der mutigste Mensch, den ich je kennenlernen durfte. Seine Arbeit war alles für ihn. Und ich hoffe..." Nates Stimme versagte.
Stille.
Übelkeit stieg in mir auf.
"Entschuldigung. Ich wollte sagen, dass ich hoffe, dass er in Frieden gehen konnte. Er starb bei einem Einsatz und ich weiß, wie sehr er den Nervenkitzel liebte. Ich wünsche mir, dass er glücklich war als er... von uns ging." 
Das Messer bohrte sich immer tiefer in meine Brust.
"Und weil mein Bruder nicht die Kindheit hatte, die er eigentlich verdient hätte, möchte ich ihm ein kleines Zitat meines liebsten Kinderbuches widmen." Nate schluckte, kämpfte gegen die aufkommenden Tränen. Seine Stimme klang eigenartig belegt. Der Anblick war unerträglich.

"Wenn ihr mich sucht, suchet mich in euren Herzen. Habe ich dort einen Platz gefunden, werde ich immer bei euch sein."
Ein verzweifeltes Wimmern bahnte sich seinen Weg an die Oberfläche, bevor ich es aufhalten konnte. Er hatte den kleinen Prinzen zitiert.
Das Buch, was ich ihm zu seinem 10. Geburtstag geschenkt hatte. 
Das Buch, was wir beide, wie einen unendlich wertvollen Schatz gehütet hatten.
Doch während ich Nates Blick suchte, sah er nur stur geradeaus. 
Der kleine, glücklich Junge von damals war fort. Vor mit stand ein gebrochener Mann.
Ich hatte ihn zerstört.
Seine Gesichtszüge wirkten steinern. Die Wärme seiner braunen Augen war einer Härte gewichen, die sich wie ein kräftiger Schlag in die Magengrube anfühlte. 
Ich stand die ganze Zeit zwischen Alex und Nate. Jetzt hatte ich beide verloren. 
Verzweifelt krallte ich meine Finger in die Hand meines Bruders. 
Gott, ich hasste mich so sehr dafür. 
"Rede mit ihm. Ich weiß, dass du Alex vermisst, aber Nate ist noch hier. Gib eure Freundschaft nicht auf, Em. Du musst dich an den Dingen festhalten, die du hier und jetzt verändern kannst." Das zögerliche Flüstern meiner besten Freundin drang an mein Ohr. 
Ich schluckte. 
Sie hatte recht. Nate war hier. 
Konnte ich, nach allem was passiert war, wirklich unsere Freundschaft retten? 
Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, spielte die Antwort darauf keine Rolle. 
Ich musste es versuchen. Das war ich uns schuldig nachdem ich alles zerstört hatte.

Als die Zeremonie beendet war, sprang ich auf. Mein ganzer Körper schmerzte unerträglich, doch ich ignorierte es. Nate hatte sich ebenfalls aufgerichtet. Ich musste jetzt einfach mit ihm reden. 
Wie ferngesteuert lief ich auf Nate zu. Wir hatten immer alles überstanden. Alles.
Als uns nur noch wenige Meter trennten, bemerkte mich mein bester Freund.
Die Abscheu in seinem Blick ließ mich in der Bewegung inne halten. 
Plötzlich war ich, wie gelähmt. 
Zwei Herzschläge. 
Dann wandte er sich ab und lief ohne ein Wort zu verlieren an mir vorbei.  
Die Welt um mich herum verschwamm. Schwarze Punkte tanzten in meinem Blickfeld. 
Von Weitem hörte ich aufgeregte Stimmen.
Ein lauter, hysterischer Schrei hallte durch die Kapelle.
Erst als ich das Brennen in meinem Hals spürte, wurde mir bewusst, dass ich die Person war die geschrien hatte.
Zwei Arme umfassten meinen tauben Körper. 
Die Dunkelheit zerrte an mir.
Dann gab ich mich der wohltuenden Leere hin. 

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