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Ich erwachte auf einer weichen Liege. Mein Gesicht klebte noch immer von den Tränen und meine Kehle brannte.
Verdammt, was hatte ich getan? Scheiße.
Die anderen mussten mich für vollkommen irre halten und das Schlimmste war, dass sie damit nichtmal so unrecht hatten. Ich hatte Alex' Beerdigung ruiniert. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
Das Einzige, was ich noch für ihn tun konnte, hatte ich kaputt gemacht. Und Nate... Er musste mich jetzt noch mehr hassen, als ohnehin schon. Sein kalter Blick hatte sich so tief in mein Gehirn gebrannt, dass ich panische Angst bekommen hatte.
Angst davor, dass jede kostbare Erinnerung unserer Freundschaft für immer von diesem verachtendem Ausdruck in seinem Gesicht überschattet werden würde.
Eine unangenehme Gänsehaut breitete sich über meinem Körper aus.
Ich war am Boden.
Tiefer, als ich jemals für möglich gehalten hatte.
Und ich hatte es verdient.
Ein jämmerliches Schluchzen bahnte sich durch meine Kehle einen Weg in die Freiheit. 
Wann war aus mir diese Person geworden? 
Ein leises Flüstern riss mich aus meinen Gedanken und holte mich zurück in die Gegenwart.
Als ich mich aufsetzte fielen mir sofort die kitischigen Sprüche auf, welche in Massen an den gelb gestrichenen Wänden des Raumes hingen. 

"Wir müssen ja sowieso denken. Warum dann nicht gleich positiv?"

"Wir können den Wind nicht ändern, aber wir können die Segel anders setzen."

"Manchmal muss man am Ende stehen um den Anfang zu sehen."

Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf. Was für ein Schwachsinn. 
Am anderen Ende des Raumes standen Elias und eine großgewachsene, blonde Frau mittleren Alters. Von ihnen musste das Flüstern ausgegangen sein. 
"Wo bin ich?", krächzte ich und zog so die Aufmerksamkeit der beiden auf mich. 
Sofort eilte mein Bruder zu mir und der sorgenvolle Ausdruck mit dem er mich musterte zerriss mir fast das Herz. In letzter Zeit bereitete ich ihm nur Kummer. Schnell senkte ich meinen Blick um ihm nicht länger in  die Augen sehen zu müssen.
Im nächsten Moment spürte ich die Hand seiner Begleiterin auf meiner Schulter. 

"Hallo Emma. Mein Name ist Dr. Naster. Sie sind im St. Georg Klinikum. Sie hatten eine Panikattacke, was dazu geführt hat, dass sie hyperventiliert haben. Körperlich scheint jedoch zum Glück alles in Ordnung zu sein. Bis auf eine leichte Mangelernährung konnten meine Kollegen nichts feststellen.", erklärte die blonde Frau. 
"Kein Wunder, du hast ja in den letzten Wochen auch kaum etwas gegessen.", entgegnete Elias besorgt. 
Er warf der Ärztin einen bedeutungsvollen Blick zu, welche diesen lediglich mit einem Nicken quittierte.
Ich hatte also eine Panikattacke. Okay, das klang plausibel. Aber wenn sonst alles in Ordnung mit mir war, warum war ich dann überhaupt noch hier? 
Als hätte Dr. Naster meine Gedanken gelesen, fuhr sie fort: "Ich bin langjährige Psychiaterin und ich möchte Ihnen helfen. Ihr Bruder hat mich bereits über Ihre Vorgeschichte informiert. So ein schwerwiegender Verlust kann Auslöser für eine depressive Episode sein. Um einen besseren Umgang mit Ihrer Situation zu finden, ist es mir wichtig Sie ab jetzt zweimal wöchentlich zur Gesprächstherapie zu sehen. Außerdem müssen Sie wieder Teil Ihres Alltags werden. Ab jetzt gehen Sie wieder regulär zur Uni." 
Mein Kopf dröhnte. Dass Sie von mir verlangte eine Therpie zu beginnen, war die eine Sache, aber zurück in die Uni zu gehen... Ich schluckte. Das war etwas ganz anderes. Dort hatte ich Alex kennengelernt. 
Dort hatten wir uns geküsst... 
Mein Magen zog sich zu einem kalten, harten Klumpen zusammen. Ich spürte, wie die Tränen in meine Augen drängen wollten, doch ich bekämpfte sie eisern.
Die Ärztin musste das Entsetzen in meinem Gesicht gesehen haben. Das schwere Seufzen, was ihr entwich, erinnerte mich an eine besorgte Mutter.
"Mrs. Harrison, das ist eine großartige Chance für Sie. Ich weiß, dass es nicht leicht wird, aber zur Zeit verhalten Sie sich äußerst selbstgefährdend. So kann und darf es nicht weiter gehen. Halten Sie meine Bedingungen nicht ein, bin ich leider gezwungen Sie in eine geschlossene Einrichtung einweisen."
"Emma, bitte. Tu es für mich." Elias' flehende Stimme gab mir den Rest. 
Die Dämme brachen. Heiße Tränen ronnen unaufhörlich über meine Wangen, während ich weiterhin stumm Dr. Naster anstarrte. Die Entschlossenheit in ihren Augen, ließ meinen Puls rasen.
Ich hatte wirklich keine andere Wahl. Aber das würde ich nicht durchstehen. 
Ich sah zu meinem Bruder. Der gequälte Ausdruck in seinem Gesicht versetzte mir einen Stich. 
Für ihn. Ich musste es für ihn versuchen. 
Zögerlich begann ich zu nicken. 
"In Ordnung. Ich tue es." Meine Stimme war nicht mehr, als ein heiseres Flüstern.
Als ich sah, wie die leisen Worte Elias zum Strahlen brachten, wusste ich, dass es dir richtige Entscheidung war. Ich musste weiter machen. Egal, wie weh es tat. Die Welt konnte nicht ewig stehen bleiben. 
Im nächsten Moment hatte Elias seine Arme so fest um mich geschlungen, als wolle er all die zerbrochenen Teile in mir wieder zusammenfügen. 
"Danke", murmelte er und ließ mit diesem einfachen Wort das erste Mal seit Wochen wieder so etwas, wie Wärme in mir aufsteigen. Ich drückte ihn noch fester an mich, unfähig etwas zu erwidern. 
Bevor wir die Klinik verließen, setzten wir für jeden Montag und Donnerstag 15 Uhr einen Termin für die Gesprächstherapie bei Dr. Naster fest.
Alex war der mutigste Mensch gewesen, dem ich je begegnet war. 
Jetzt war es an mir mich meinen größten Ängsten zu stellen.


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