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Nate ließ sich so dicht neben mich aufs Bett sinken, dass ich seine Körperwärme spüren konnte. In seinen Haaren schimmerten noch immer winzige Wassertropfen, die erst wenige Minuten zuvor durch die Leitung der Dusche geflossen waren. Der herbe Duft seines Shampoos wirkte wie Somatropin auf den Kloß in meinem Hals. Normalerweise beruhigte mich Nates Nähe immer, doch gerade machte sie mich einfach nur wahnsinnig. Und das auf keine gute Art.  
Aber was ist schon normal? Normalerweise sollte ich um diese Uhrzeit auch schon lange müde sein, doch stattdessen fühlte ich mich wacher denn je.
Während Nates Blick auf mir ruhte, starrte ich so energisch auf meine Hände, als wolle ich sie in Flammen aufgehen lassen. 
Wenn ich genauer darüber nachdachte, wäre das sicherlich gar kein so schlechter Plan. Brennende Hände wären eine gute Ausrede um das Gespräch, was mir unweigerlich bevorstand, noch ein wenig hinauszuzögern. 
Und obwohl es wohl höllisch weh tun würde, wäre das nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die der Riss in unserer Freundschaft verursachen würde.
Früher empfand ich unsagbares Mitleid für alle Menschen, die keinen Nate in ihrem Leben hatten. 
Es war unvorstellbar für mich, wie es sein musste ohne diese eine Person zu leben, auf die man immer zählen konnte. 
Und jetzt war ich kurz davor selbst meinen Nate zu verlieren. 
Mit jeder Sekunde, die verstrich wurde mein Puls schneller und meine Handflächen feuchter.
Nates Blick und die Tatsache, dass er kein Wort sagte, machten die Situation nur noch unerträglicher.
Das war wohl einer dieser berüchtigten Momente, in denen man eine Stecknadel fallen hören könnte. Allein das Ticken der Uhr zerschnitt in regelmäßigen Abständen die Stille und erinnerte uns auf seine ganz eigene Weise an die Vergänglichkeit des Augenblicks. 

Hör auf es hinauszuzögern. Das ist einfach nur feige. Du musst es ihm sagen. 
Meine innere Stimme hatte recht. 
Das schuldete ich ihm.
Nate hatte etwas Besseres verdient. Bedingungslose Liebe. Nicht mehr und nicht weniger.  
Die Angst hatte sich tonnenschwer auf meiner Brust gelegt. Jeder Atemzug brannte in meiner Lunge. 
Immer wieder öffnete ich den Mund um etwas zu sagen, doch meine Kehle war wie zugeschnürt.
Keine Ahnung ob Minuten oder Stunden vergangen waren, doch irgendwann gab Nate ein leises Schnauben von sich und setzte sich auf.
"Raus mit der Sprache, Emma. Was ist los?"
Seine Worte rissen mich aus meiner Starre.
Mit zittrigen Bewegungen setzte ich mich auf und zog schützend meine Beine an meinen Körper. 
Mein Herz schlug mittlerweile so laut gegen meine Rippen, dass er es hören musste. 

Tik, tak, tik, tak. 
Jede vergangene Sekunde verhöhnte mich und führte mir jedes Mal aufs Neue erbarmungslos vor Augen wie schwach ich in Wahrheit war.
Tik, tak.

Endlich schaffte ich es den Blick zu heben. Nates Augen waren unergründlich und das erste Mal in meinem Leben hatte ich keinen Schimmer, was er dachte.
Nervös pulte ich an meiner Nagelhaut, bis ich sie schließlich abriss. 
Das Brennen war nichts gegen das Feuer, was in meinem Inneren loderte. 
Die Flammen drohten mich zu zerstören, doch ich drängte sie mit aller Kraft zurück.
Die Liebe zu Nate muss stärker sein, als meine Angst ihn zu verlieren.
Er hat die Wahrheit verdient.
Ich darf keine weitere Sekunde seiner Zeit verschwenden.
Es wird ihn nur immer mehr verletzen, je länger ich warte.
Ich darf nicht egoistisch und schwach sein. Nicht jetzt. Nicht wenn es um Nate geht.

Um nicht endgültig den Verstand zu verlieren, krallte ich meine Nägel so fest in die feine Haut meiner Waden, dass kleine, hellrote Halbmonde entstanden.
Der physische Schmerz half mir den dicken Kloß in meinem Hals endlich herunterzuschlucken.
Ich atmete ein weiteres Mal zittrig ein und als ich schließlich in der Lage war zu sprechen klang meine Stimme genauso gebrochen, wie ich mich fühlte. 

"Nate, ich muss dir etwas gestehen. Und das ist verdammt schwer für mich, weil du mich vermutlich danach mit anderen Augen sehen wirst... Vielleicht sogar hassen wirst und das kann ich nicht ertragen. Doch viel weniger kann ich dir weiterhin so viel von den Gedanken verschweigen, die in mir vorgehen. Oder die Dinge, die passiert sind. Und bitte glaub mir. Ich wollte das alles nicht. 
Ich wollte unbedingt, dass das mit uns beiden klappt, weil ich eine Riesenangst hatte dich sonst zu verlieren. Und diese Angst hat mich blind gemacht. Dadurch habe ich so viele Fehler gemacht und ... Fuck ... Ich bereue das so sehr. Ich hätte von vornherein auf mein Herz hören und nicht allen um mich herum etwas vorlügen sollen... inklusive mir selbst."
Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Meine Ohren rauschten. Alles um mich herum verschwamm. Da waren nur noch Nates dunkle Augen, die sich wie zwei spitze Pfeile in mich hineinbohrten. 
Nach einen kurzen Pause fuhr ich fort. 
"Weißt du noch, an dem Tag, als du mir deine Gefühle gestanden hast, da wollte ich dir etwas sagen. Du meintest es wäre nicht wichtig und würde dich nicht interessieren, doch ich hätte es nicht darauf beruhen lassen dürfen. Ich wollte dir damals sagen, dass..." Meine Stimme brach. Ich kämpfte gegen die kratzende Trockenheit in meiner Kehle an, doch es half nichts. 
"Ich bin davor bereits Alex näher gekommen." Die Worte schmeckten so bitter auf meiner Zunge, als hätte ich gerade einen großen Löffel voller Essig heruntergewürgt. 
Die Luft zwischen uns war so geladen, dass ich innerlich nur auf eine Explosion wartete.
Doch diese blieb aus. 
Eine eiskalte Gänsehaut hatte mittlerweile jeden Zentimeter meines Körpers überzogen, obwohl es in unserem Zimmer eigentlich viel zu warm war.  

Nate starrte mich noch immer stumm an und mit jeder Sekunde die verstrich, konnte ich förmlich spüren, wie er mehr und mehr zerbrach. Jede einzelne Scherbe seines Herzens bohrte sich so tief in meine Seele, dass ich das Gefühl hatte nie wieder heilen zu können.
Innerlich zu verbluten.
Ein verzweifeltes Schluchzen bahnte sich einen Weg durch meine Kehle an die Oberfläche.
Erst jetzt bemerkte ich, dass meine Wangen feucht waren. 
"Weiter. Ich will es hören." Nates Worte waren nicht mehr, als ein raues Flüstern, doch erschütterten mich so tief, dass mir für einen Moment schwarz vor Augen wurde.
Reflexartig wollte ich nach seiner Hand greifen, doch er zog sie so blitzartig weg, als hätte ich ihn verbrannt. 
Es war das erste Mal seit ich denken konnte, dass wir uns keinen Halt gaben.
Tränen ließen meine Sicht verschwimmen. Mein ganzer Körper zitterte mittlerweile so stark, dass ich nur mit Mühe meine sitzende Position aufrecht halten konnte. Statt Blut pumpte mein geschundenes Herz nur noch Eis durch meine Adern. 
Mit einem schwachen Nicken fuhr ich fort. 
"Wir haben uns geküsst. Ich dachte es wäre nur sehr starke Anziehung, das dachte ich wirklich. Glaub mir. Es tut mir so leid." 
Ein stummes Schluchzen erschütterte meinen Körper bis in Mark. 
Tik, tak, tik.
"Dann hast du mir gesagt, was du empfindest. Ich wollte unbedingt, dass du der Eine für mich bist. Aber Alex blieb, ganz egal was ich auch tat und wie sehr ich mich auch dagegen wehrte, mein persönlicher Magnet. Ich bin einfach nur ein Scheißstück Eisen, was keine Kontrolle mehr über seine Gedanken hat. Es ist wie eine Krankheit. Ich bekam... bekomme ihn einfach nicht mehr als meinem Kopf. Wir haben uns die ganze Zeit so gut es geht von einander fern gehalten. Ich habe ihm sogar gesagt, dass wir den Kontakt abbrechen müssen. Danach hat er aufgehört an der Uni zu unterrichten. Doch die Krankheit, die er mir verpasst hatte wurde, statt zu heilen, von Tag zu Tag schlimmer. Ich wollte diesen Ausflug machen, weil ich dachte, dass ich Alex dann endlich aus meinen Gedanken verscheuchen kann, doch es hat einfach nicht geklappt."

Mein ganzer Körper hatte sich verkrampft. Mittlerweile krallte ich meine Nägel so fest in mein Bein, dass er bereits blutete. 
"Sag es." Der Ton in Nates Stimme jagte einen eiskalten Schauer über meine Wirbelsäule und ließ mich erneut erzittern. 
Die nächsten Worte brachte ich nur als gebrochenes Flüstern über meine Lippen. 
"Ich liebe Alex. Du bist mein bester Freund Nate, aber ich liebe Alex. Es tut mir so unendlich leid."
In diesem Moment wurde mir klar, dass ich es in meinem Inneren schon die ganze Zeit gewusst habe.
Ich habe  Alex weggeschickt, weil ich meinen besten Freund nicht verlieren wollte, doch in Wahrheit war ich ihm so verfallen, dass es mir Angst machte.
Als ich ihn getroffen habe, wurde mir bewusst, warum es all die Jahre mit keinem anderen funktioniert hat. Sie waren einfach nicht er. 
Wenn ich nur für einen Moment in mich selbst hineingehört hätte, dann hätte ich all das vermeiden können. 
Nate würde es gut gehen. Wir wären noch immer beste Freunde. Kein Scherbenhaufen. 
Die Erkenntnis traf mich, wie ein heftiger Schlag in die Magengrube. 

"Es tut mir so unendlich leid. Es tut mir so leid."
Tik, tak, tik, tak, tik.
Nates Gesichtszüge hatten sich schmerzvoll verzerrt. Er öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder, als würde es keine Worte geben, die ausdrücken könnten, was er zu sagen hat.
Quälende Stille legte sich über uns. 
Wir starrten uns einfach nur an. Zwei gebrochene Augenpaare ineinander verflochten.
Stumme Schreie, die lauter nicht durch den Raum hallen könnten.
Ich weiß nicht, wie lange wir so dasaßen, doch irgendwann hatte mein Körper aufgehört zu zittern. Meine Tränen waren getrocknet, mein Kopf leer und meine Gelenke steif.
Ein schrilles Klingeln ließ uns zusammenfahren. 
Irritiert blickte ich auf die Wanduhr über uns. Es war bereits nach 3 Uhr morgens. Warum klingelte zu dieser gottlosen Zeit Nates Handy?
Mit einer ungelenken Bewegung fischte mein bester Freund das schwarze Mobilgerät aus seiner Tasche und presste es an sein Ohr.
"Ja?" Seine Stimme klang hohl und unnatürlich laut in der Stille des Hotelzimmers. 
Ich hörte das leise Echo einer aufgeregte Frauenstimme auf der anderen Seite der Leitung und als ich nur wenige Augenblicke später den Ausdruck in Nates Gesicht sah, wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte.

 

 

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