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Nachdem ich meinen völlig aufgewühlten Bruder angerufen hatte, fuhr mich Alex ins Krankenhaus um meinen Körper nach Steves kranken Experimenten einmal von oben bis unten durchchecken zu lassen. 
Elias hatte am Telefon kaum ein Wort gesagt, doch ich konnte seinen unkontrollierten Atem und das unterdrückte Schluchzen hören. 
Es zerriss mein Herz. Elias musste in den letzten Wochen ebenfalls die Hölle durchgemacht haben. Wir waren füreinander die einzige Familie, die wir noch hatten. 
Nachdem jeder Knochen und jedes Organ meines Körpers genau untersucht wurde, durfte ich endlich nach Hause.
Als ich auf den Parkplatz vor dem Krankenhaus trat,  warteten Elias, Maja, Alex und überraschenderweise auch Nate bereits auf mich. 
Nate zog seinen Bruder gerade in eine so innige Umarmung, dass ich kurz Angst um Alex' Atemwege hatte. 
Das Bild erinnerte mich an eine Welt in der noch alles in Ordnung war. Eine glückliche Welt.
Ich konnte nichts gegen das Strahlen tun, was sich auf meinem Gesicht ausbreitete.
Als Elias mich bemerkte, kam er sofort auf mich zugestürmt und zog mich in seine Arme. 
Bereitwillig ließ ich mich an ihn sinken und inhallierte seinen Duft. 
Der Geruch nach Zuhause. 
"Gott, ich bin fast umgekommen vor Sorge." Seine Stimme klang erstickt.
Ich krallte meine Hände noch fester in seine Jacke.
"Du hast mir so gefehlt, Bruderherz." Ich konnte die Niagarafälle, die nun aus meinen Augen strömten nicht mehr zurückhalten.
Beruhigend streichelte mir Elias über den Kopf. 
"Jetzt wird alles gut. Alles ist gut." Und ich wusste, dass er recht hatte. 

Alex verabschiedete sich von uns, bevor wir nach Hause fuhren. 
Am Liebsten hätte ich ihn gebeten bei mir zu bleiben, doch das wäre nicht fair gewesen.
Er war mir nichts schuldig und doch konnte ich es kaum ertragen auch nur eine weitere Sekunde von ihm getrennt zu sein.
Während der Fahrt gab ich ein Kurzfassung der letzten Wochen wieder. 
Eine betretene Stille hatte sich im Auto ausgebreitet.
"Das ist schrecklich. Es tut mir so leid, Emma.", sagte Maja leise. 
Ihre Augen hatte einen verdächtigen Schimmer angenommen.
"Es ist vorbei. Jetzt bin ich hier. Bei euch. Das ist das was zählt."

Unser Haus wieder zu betreten, war unglaublich. 
Es hatte sich nichts verändert. 
Als ich das letzte Mal durch diese Tür gegangen war, hätte ich nie gedacht, was mir zustoßen würde.
Elias wich mir keine Sekunde von der Seite. 
Als wir gemeinsam mein Zimmer betraten, sah ich die noch immer aufgeschlagenen Lernunterlagen für meine damalige Prüfung auf dem Schreibtisch liegen.
"Du hast alles so gelassen.", stellte ich fest.
"Ich habe es nicht übers Herz gebracht auch nur deine Bücher zuzuschlagen. So hatte ich das Gefühl du könntest jeden Moment durch die Tür reinspazieren um weiter mit mir zu lernen."
Elias Stimme hatte einen rauen Ton angekommen.
Sein Schmerz tat auch mir weh. 
Tröstend griff ich nach seiner Hand. 
"Jetzt bin ich hier. Und die Prüfungen muss ich immer noch nachholen. Spätestens nächste Woche wirst du deinen Wunsch mit dem gemeinsamen Lernen bereuen."

Nach einer Weile sah die Freundin meines Bruders zwischen mir und Nate hin und her.
Dann sagte sie laut: "Komm Elias, du wolltest mir doch noch diese Sache zeigen."
Maja warf meinem Bruder einen vielsagenden Blick zu, den dieser mit unverholener Unlust erwiderte.
"Hey, es ist okay. Ich werde nicht wieder einfach so verschwinden. Versprochen.", flüsterte ich und drückte ermutigend seine Hand.
Ich konnte verstehen, warum er mich nicht wieder los lassen wollte, doch wir mussten jetzt beide unsere Ängste besiegen und normal weiter leben.
Normal. Dieses Wort klang so wundervoll. 
Maja räusperte sich. 
"Ist ja schon gut.", gab Elias nach und zog mich erneut in seine Arme. "Ich bin so froh, dass du wieder da bist." 
Seine Worte brachten mich zum Lächeln. Er hatte ja keine Vorstellung, wie glücklich es mich machte wieder bei ihm zu sein.
Maja warf Nate einen auffordernden Blick zu und verließ dann zusammen mit Elias schnellen Schrittes das Zimmer.
Nate stand unschlüssig in der hinteren Ecke des Raums und schien nicht zu wissen, was er mit seinen Händen anstellen sollte. Erst vergrub er sie in seiner Jeansjacke, dann in seinen Hosentaschen, dann verschränkte er sie, nur um sie im nächsten Moment wieder hängen zu lassen. 
Sein Anblick wirkte vertraut und doch ungewohnt. 
Wir hatten uns in all den Jahren nie vor dem anderen unwohl gefühlt. 
Bis sich alles geändert hat.
Mein Herz zog sich schmerzlich zusammen.
Ich hätte ihm gern gesagt, dass er nicht so nervös sein müsse und einfach sagen könne, was ihm auf der Zunge lag. Ich war es doch nur. 
Wir hatten bereits so viel Zeit unseres Lebens damit verbracht einfach nur miteinander zu reden, dass man mittlerweile sicherlich ganze Monate damit füllen könnte. 
Doch wir waren nicht mehr wir. 
Daher sah ich ihn nur an und wartete.
"Du hast mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt.", sagte er schließlich.
"Eigentlich ist das sogar ziemlich untertrieben. Ich war verrückt vor Sorge. Und ich habe mich selbst dafür gehasst, wie ich mich dir gegenüber verhalten habe. Ich war verletzt und war deshalb ein komplettes Arschloch. Es tut mir so leid."
Ich ließ mich auf mein Bett fallen und klopfte auffordernd mit der Hand auf die Matratze. 
Mein Herz schlug mir mittlerweile bis zum Hals.
Nate kam meiner stummen Bitte nach und setzte sich neben mich.
"Es war meine Schuld, dass es überhaupt soweit gekommen ist. Du hattest jedes Recht dazu sauer auf mich zu sein. Ich habe mich selbst und dich belogen. Es war nie meine Absicht dich zu verletzen. Das musst du mir glauben." Mit jedem Wort wurde der Kloß in meinem Hals größer und der Klang meiner Stimme erstickter. 

Nate blickte abrupt auf und ergriff meine Hand.
Diese vertraute Geste trieb mir die Tränen in die Augen. 
Vielleicht waren die Emma und der Nate von damals doch noch nicht komplett verschwunden. "Ich glaube dir Emma. Ich weiß, dass du nichts für deine Gefühle kannst." Er seufzte. "Ist wohl ganz schön scheiße gelaufen, was?" 
Ein zaghaftes Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln.
"Das kannst du laut sagen.", krächzte ich.
Nate atmete hörbar aus. Dann wieder ein. Nochmal aus und nochmal ein.
Es war offensichtlich, dass er etwas sagen wollte, was ihn Überwindung kostete.
Sein Gesichtsausdruck blieb undurchdringlich. Das vertraute Braun seiner Augen wirkte dunkler, als sonst, aber sanft.
Schließlich seufzte er frustriert.
"Nachdem du weg warst, habe ich gemerkt, dass ich dich in meinem Leben haben möchte. Ich brauche dich Emma. Und ich liebe dich nicht nur auf diese eine Art. Ich liebe dich auch als Freundin. Als meine beste Freundin. Ich will meine beste Freundin zurück haben. Und ich habe eine Scheißangst, dass ich unsere Freundschaft an dem Tag, an dem ich dir meine Gefühle gestanden habe, für immer ruiniert habe. Wenn du nicht mehr mit mir befreundet sein kannst, dann verstehe ich das. Aber...es würde mir das Herz brechen. Du bist die beste Freundin, die ich je hatte. Und es tut mir so leid, dass du erst entführt werden musstest damit ich die Wahrheit erkenne."
Seine Worte setzten all das wieder zusammen, was in den letzten Wochen in mir zu Bruch gegangen war. Stück für Stück. Ein tonnenschweres Gewicht verschwand von meinen Schultern und ließ mich nach Ewigkeiten wieder frei atmen. 
Einem übermächtigen Impuls folgend schlang ich meine Arme um ihn.
Für einige Sekunden mutierte Nate zu einer leblosen Salzsäule und gerade, als ich ihn wieder los lassen wollte, wachte er aus seiner Starre auf und drückte mich noch enger an sich. 
Eine wohlige Wärme breitete sich in mir aus. 
"Danke", flüsterte ich so leise, dass ich mich kurz fragte ob Nate es überhaupt gehört hatte.
Als er mich noch ein bisschen fester an sich zog, hatte ich meine Antwort.
Keine Ahnung, wie lange wir so da saßen, doch irgendwann machte sich mein Magen lautstark bemerkbar.
Vor lauter Aufregung hatte ich komplett vergessen etwas zu essen.
Nate ließ mich los und lächelte mich zögerlich an.
"Meine Mum hat mir ihre berühmten Kekse für dich mitgegeben. Also falls du möchtest..."
"Oh mein Gott, ich habe ihre Kekse so sehr vermisst.", unterbrach ich ihn und das erste Mal seit sehr langer Zeit hatte ich das Gefühl, dass endlich alles gut werden würde.  

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