Kurzgeschichten

Kapitel 9:

„Es ist kalt heute Nacht", sage ich leise, als ich am Ruder der Black Widow angekommen bin. Dort steht der Captain am Steuerrad und navigiert das Schiff sicher durch die nächtliche See.
„Was machst du dann hier draußen", erwidert sie sanft und wirft mir einen fragenden Blick zu.
Ich zucke nur mit den Schultern.
„Ich wollte dich sehen."
Ein leises Schmunzeln legt sich auf die vollen Lippen der jungen Frau und sie bedeutet mir, an ihre Seite zu treten.
„Bis jetzt habe ich noch keinen weiteren Menschen umgebracht, falls du dich um deine Seele sorgst", sagt sie belustigt und ich rolle nur mit den Augen.
„Willst du einmal ans Steuer?"
Ich bin zwar überrascht, lehne aber auch nicht ab.
„Hier. Versuch das Schiff einfach nur ruhig im Wasser zu halten. Den Rest besorgt der Wind", erklärt der Captain mit gesenkter Stimme und tritt beiseite, um mich an das große, hölzerne Steuerrad zu lassen.
Eine Weile stehen wir so stumm nebeneinander, bis ich erneut das Wort ergreife.
„Wie kannst du all das nur mit deinem Gewissen vereinbaren..."
Ich höre die junge Piratin leise seufzen, drehe mich aber nicht um.
„Welches Gewissen", antwortet sie verbittert und legt eine Hand an meine Taille. Wir blicken uns tief in die Augen.
„Hätte ich ein Gewissen, hätte ich dich schon längst getötet anstatt dich für meine Pläne zu benutzen."
Ich beiße mir fest auf die Lippe und versuche die verwirrten Gefühle in meinem Herzen nicht die Oberhand gewinnen zu lassen.
„Ich glaube dir nicht. Du hast noch ein Gewissen. Und du weißt sehr wohl, dass du gerade ein weiteres Menschenleben zerstörst. Und es belastet dich."
Wieder seufzt der Captain tief und streicht mir mit den Fingerspitzen zart über die kalte Wange.
„Ich wünschte es wäre so. Um deinetwillen."
Dann lehnt sie sich langsam vor und gibt mir einen zärtlichen Kuss.
Tief in mir weiß ich, dass ich gerade auf eine schreckliche Lüge hereinfalle. Dass ich manipuliert und belogen werde. Ausgenutzt und gebrochen.
Aber was ist, wenn es mir egal geworden ist?
Was ist wenn ich bereits zu tief im tödlichen Strudel gefangen bin? Und meine einzige Option nun ist, mich kampflos mitreißen zu lassen?
„Was ist, wenn ich deine Seele nicht retten kann?", flüstere ich gegen die warmen Lippen der schönen Frau und schlinge beide Arme um ihre Hüfte.
„Dann sind wir beide verloren", wispert sie zurück und küsst mich noch intensiver als zuvor.
Und mir wird klar, was der Captain damit gemeint hat.
Sollte die Prophezeiung wirklich stimmen, dann bin ich auf dem besten Weg an ihrer statt in der Hölle zu schmoren.
Und sollte sie nicht stimmen, würde ich daran zerbrechen, dass meine Gefühle nicht erwidert werden. Und die Seele des Captains wäre endgültig verdammt.
Mir bleibt also nur ein Weg.
Ich muss mich von diesen Sehnsüchten in meinem Herzen trennen. Emotionen, die mir so hinterlistig und gemein dort eingesetzt wurden!
Aber selbst wenn ich es schaffe, würde die junge Piratin es zulassen? Oder würde sie mich auf der Stelle töten?
Ich werde auf diese Frage keine Antwort erhalten, denn ich werde sie ihr nie stellen...