Kapitel 9:

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Die Abende bei June werden schon bald zur unverzichtbaren Gewohnheit für mich. Auch wenn sie oft mit mehreren Stunden harter Arbeit verbunden sind, freue ich mich jedes Mal wieder, meine Zeit mit June verbringen zu dürfen. Die Nächte bleibe ich ebenfalls meistens in ihrem Haus und schlafe dort so entspannt und tief wie schon lange nicht mehr.
Dementsprechend viel Energie und Eifer kann ich tagsüber in mein Training mit den Tigern stecken und in jeder weiteren Vorstellung wachse ich noch ein Stück über mich hinaus.
Diese Tatsache mag aber auch dem geschuldet sein, dass ich mir keine Sorgen mehr zu machen brauche, welchen Mann ich nach der Show ins Hotel oder aber nachhause begleiten muss.
Junes schützende Hand schwebt ohne Unterlass über mir und ich genieße dieses neue Gefühl des Glücks und der Unbeschwertheit in vollen Zügen.
Sogar mein mürrischer Vater scheint meinen neu gewonnenen Ehrgeiz bemerkt zu haben. Jedenfalls räumt er meinem und Bruce' Auftritt überraschend noch weitere fünf Minuten in der Vorführung ein.
Doch als ich an diesem Abend die ausverkaufte Manege betrete und meinen Blick aus reiner Gewohnheit durch die zahlreichen Zuschauer schweifen lasse, fällt er beinahe sofort auf einen ganz besonderen Gast in der ersten Reihe...
June Evans sitzt dort. In einem dunkelblauen Kleid und mit einem sanften Lächeln auf den vollen Lippen.
Mein Herz hüpft vor Freude in meiner Brust. Und als sich unsere Augen treffen, strömt ein warmes Gefühl durch meinen gesamten Körper, bis zu meinen Zehenspitzen hinab.
Dass June an diesem Abend zu unserer Vorstellung gekommen ist, bedeutet mir viel! Denn ihre Angst vor Zeus, Hera, Hades und Dionysos ist nach wie vor sehr präsent. Und darum achte ich während meiner Darbietung ganz besonders darauf, dass keiner meiner vier Schützlinge der schönen Schauspielerin zu nahe kommt.
Ich weiß nicht, ob es an Junes Anwesenheit liegt, aber an diesem Abend gelingt mir einfach jeder Schritt, jede Drehung und jedes Kunststück.
Vielleicht ist es auch die leise Stimme in meinem Hinterkopf, die mich pausenlos zur Höchstform antreibt. Aber als ich mich schließlich am Ende meiner Show schwer atmend an Zeus heran schmiege und Hera, Hades und Dionysos ihre gewaltigen Köpfe auf meinem Brustkorb und Schoß ablegen, weiß ich, dass ich in dieser Nacht für June getanzt habe. Und nur für sie.
Im Gegensatz zu meiner ersten Vorstellung, ist die erfolgreiche Schauspielerin diesmal einer der ersten, die sich begeistert klatschend von ihrem Platz erhebt. Ihre grünen Augen funkeln und das stolzes Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht ist noch eine Spur breiter geworden.
Ich erwidere dieses strahlende Lächeln. Und diesmal kommt es tief aus meiner Seele.

Ich bin gerade dabei die Tiger in ihren Käfigen zu füttern, als plötzlich eine vertraute Stimme hinter mir erklingt.
„Du hast dich selbst übertroffen, Romy. Ich bin sehr stolz auf dich!"
Überrascht wirble ich herum und sehe June in respektvollem Abstand zu den Käfigen auf der dunklen Wiese stehen.
„June!", rufe ich erfreut und stelle den Eimer mit Futter achtlos auf dem Boden ab, um rasch zu ihr hinüber zu laufen.
„Ich wusste nicht, dass du kommen würdest...", murmle ich leise, als ich beide Arme um die Taille der jungen Schauspielerin schlinge und sie in eine vorsichtige Umarmung ziehe. Zu meiner großen Erleichterung erwidert June diese vertrauensvolle Berührung aber ohne zu zögern.
„Ich wollte sehen, wie du tanzt wenn du dich voll und ganz deiner Leidenschaft hingeben kannst. Und wie ich feststellen durfte, bist du noch viel talentierter, als ich es für möglich gehalten hatte", erwidert June sanft und nimmt behutsam mein Gesicht in beide Hände. Ihre Haut gegen meine eigene fühlt sich angenehm kühl an.
„Hattest du Spaß heute Abend?", flüstert June dann fürsorglich und ich kann nur stumm nicken. Ein dicker Kloß hat sich in meiner Kehle gebildet und macht mir das Schlucken schwer.
„Ich...June-...Danke. Ohne dich-...ich...so gut wie heute Abend war ich noch nie", kommt es nur gebrochen über meine Lippen, doch die schöne Schauspielerin lächelt nur verstehend.
„Es war bezaubernd. Wirklich. Ich habe alles andere um mich herum vergessen. Beinahe auch die Tiger", erwidert June sanft und wie aufs Stichwort höre ich Dionysos leise hinter mir knurren. Lächelnd löse ich mich von June und drehe mich augenrollend zu meinem Schützling um.
„Hey! Du brauchst nicht glauben, ich hätte dich oder dein Abendessen vergessen!"
Der angesprochene Tiger aber knurrt als Antwort nur erneut und legt sich dann brummend auf den Bauch. Als ich mich wieder June zuwende, beobachtet die ältere Frau mit einem ernsten Ausdruck auf ihrem schönen Gesicht meine vier Freunde.
„Du solltest ihn lieber füttern, bevor er gereizt wird", sagt sie dann mit fester Stimme und wirft mir einen kurzen, besorgten Blick zu.
„Oh, Dionysos ist immer ein wenig lauter als die anderen drei. Aber es gehört schon viel dazu einen von ihnen wirklich wütend zu machen. Besonders wenn ich in der Nähe bin", beruhige ich June sofort und lächle ihr aufmunternd zu. Trotzdem gehe ich langsam wieder zurück zu dem eisernen Käfig des weißen Tigers und als ich mich mit dem Futter nähere, schlägt Dionysos ungeduldig mit seiner mächtigen Pranke gegen die Gitterstäbe und bleckt hungrig die Zähne.
Nur aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, wie June erschrocken zusammenzuckt und sich ein paar weitere Schritte zurückzieht.
„Komm schon, Großer! Du kannst dich doch besser benehmen", weise ich das jungen Tigermännchen streng zurecht und beginne damit, ihn durch die einzelnen Stäbe langsam mit Fleischstücken zu füttern. Entgegen seiner ruppigen Art, nimmt Dionysos das Futter ganz vorsichtig aus meiner Hand, schluckt es dann aber gierig im Ganzen herunter. Schmunzelnd streichle ich ihm über sein warmes Fell.
„So ist es brav. Du bist doch ein feiner Kerl", lobe ich ihn und werfe June einen lächelnden Blick zu, die mich weiterhin mit sorgenvoller Miene beobachtet.
Erst als der Eimer leer und alle Tiger satt und zufrieden sind, entspannen sich die Schultern der erfolgreichen Schauspielerin wieder und das warme Lächeln kehrt auf ihre roten Lippen zurück.
„Sind alle Finger noch dran?", fragt sie mich scherzhaft, als ich mir die Hände in einem aufgestellten Regenfass wasche und wir anschließend gemeinsam über den dunklen Rasen davon gehen.
„Willst du nachzählen?", grinse ich ebenfalls und halte auffordernd beide Arme in die Luft.
June schüttelt nur schmunzelnd den Kopf und blickt dann wieder zurück auf den provisorischen Weg aus Erde und Gras vor uns.
„Möchtest du diese Nacht in meinem Haus oder doch lieber hier verbringen?", fragt sie mich dann nach einer Weile ruhig und ich werfe ihr einen unschlüssigen Blick zu.
Normalerweise sind Showabende die einzigen in der Woche, an denen ich June nicht besuche. Denn erstens ist es meistens schon mitten in der Nacht, bis die Vorstellung vorbei und alle Tiere versorgt sind und zweitens bin ich einfach zu erschöpft und müde, um noch die lange Fahrt mit dem Rad bis zu ihrem Anwesen auf mich zu nehmen.
Heute ist June allerdings mit dem Auto gekommen...
Doch gerade als ich ihr antworten will, passieren wir die kleine Gasse, in der das Büro meines Vaters steht. Und nicht nur ich sehe die vier aufgebrachten Männer aus gehobener Gesellschaft davor, die sich mit gedämpfter Stimme mit meinem Vater streiten.
„-kann ja wohl nicht sein! Ich bezahle gutes Geld!"
„Warum jetzt nicht mehr? In der letzten Stadt war es kein Problem, das weiß ich sicher!"
„-vertrösten Sie mich nun schon zum dritten Mal!!", sind nur einige Gesprächsfetzen, die durch den aufgekommenen Wind zu June und mir herüber getragen werden.
Stirnrunzelnd bleibe ich stehen und verfolge mit großen Augen, wie sich die gut gekleideten Männer bei meinem Vater beschweren. Und so verärgert wie er dabei schaut, weiß ich auch ganz genau, worum es bei ihrer Diskussion geht.
„Bitte sag mir, dass sich diese widerlichen Szenen nicht nach jedem deiner Auftritte abspielen!", murmelt June mit zusammengebissenen Zähnen und ihre grünen Augen funkeln gefährlich. Der Blick der erfolgreichen Schauspielerin ist starr auf die Gruppe aus den vier Herren und meinem Vater gerichtet.
„Leider doch. Aber ich befinde mich dabei meistens nicht in der Nähe. Sie...sie verstehen einfach nicht, warum sie mich nicht mehr treffen dürfen", antworte ich leise und zucke einmal mit den Schultern. June jedoch kann nur mit Mühe die Augen von der aufgebrachten Gruppe abwenden. Und als sie als es dann doch tut, liegt ein bittender Ausdruck darin.
„Begleite mich heute Nacht nachhause, Romy. Bitte! Ich möchte dich in Sicherheit wissen", sagt sie ernst und nimmt sanft aber bestimmt meine Hand in ihre, zieht mich aus dem potentiellen Blickfeld meiner Verehrer, „ich bringe dich morgen auch pünktlich zurück. Ich verspreche es."
Ich muss nicht lange überlegen. Selbst wenn ich wollte, könnte ich June diesen Wunsch nicht abschlagen. Sie ist überhaupt der Grund, warum ich heute nicht mit einem dieser fluchenden Männer im schicken Anzug Sex haben muss. Es ist ihr Geld, das mich davor bewahrt. Im Umkehrschluss bedeutet das aber streng genommen auch, dass sie darüber entscheiden darf, wie ich diese neu gewonnene Zeit verbringen werde...
Natürlich weiß ich, dass June mich niemals zu etwas zwingen würde und ich verbringe auch jetzt schon weit mehr Zeit mit ihr, als nur die vereinbarten Nächte nach der Vorstellung. Freiwillig!
Auch wenn mein Vater es nicht gerne sieht, das viele Geld lässt ihn zum Glück schweigen. Und so ist meine Entscheidung schnell getroffen.
„In Ordnung. Ich muss mich nur noch rasch umziehen", erwidere ich lächelnd und führe June an der Hand durch das Gewirr von Zelten und Gehegen zu meinem Wohnwagen hinüber.
Dort angekommen öffne ich schnell die Tür und bedeute der jungen Schauspielerin mir ins Innere zu folgen.
Während ich frische Kleider aus meinem Schrank hole, sieht sich June aufmerksam in meinem fahrenden Zuhause um.
„Es ist faszinierend wie viel doch in so einen kleinen Raum passt. Du hast hier alles, was du zum Leben benötigst", sagt sie andächtig und betrachtet interessiert die praktische Einrichtung.
„Eigentlich würde ich die Tiger gerne noch bei mir haben, aber ich fürchte Zeus könnte sich hier drin kaum richtig umdrehen", erwidere ich lächelnd und da lacht June amüsiert auf. Es ist ein so angenehmes Geräusch.
„Mir wäre auch wohler, wenn wenigstens einer deiner starken Freunde mit in deinem Wohnwagen wohnen würden", murmelt sie dann nach einem Moment leise und wendet sich taktvoll ab, als ich eilig aus meinem Kostüm schlüpfe, um meine normalen Kleider wieder anzuziehen.
„Wie meinst du das?", frage ich verwirrt, während ich mein funkelndes Kostüm ordentlich über einen Bügel hänge.
„Ich glaube kaum, dass sich einer dieser...Männer an dich heran trauen würde, wenn beispielsweise Dionysos oder Zeus dich bewachen würden", erklärt June ruhig ihre Gedanken und ich muss bei dieser Vorstellung schmunzeln.
„Vermutlich nicht. Aber bei dir trauen sie es sich auch nicht", antworte ich lächelnd und entferne mit einem nassen Tuch noch schnell die dunkle Schminke um meine Augen, bevor ich der jungen Schauspielerin vorsichtig auf die Schulter tippe.
„Ich bin fertig. Wollen wir gehen?"
June nickt zustimmend und öffnet die Tür meines Wohnwagens. Zusammen steigen wir die wenigen Treppenstufen hinunter und ich folge der älteren Frau bereitwillig über den matt erleuchteten Festplatz zu ihrem weißen Auto. Selbst in der Dunkelheit ist dem Wagen sein sicherlich hoher Preis deutlich anzusehen.
„Lass uns fahren. Du sollst heute Nacht noch genug Schlaf bekommen", sagt June fürsorglich und als sich unsere Blicke treffen, lächelt sie warm.

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