Kapitel 6:

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„Weißt du was ich nicht verstehe? Wieso sich der Druck einfach nicht regelmäßig aufbaut..."
Mit gerunzelter Stirn stehen Jim und ich über das Fehlerprotokoll des linken Nebentriebwerks A37 gebeugt und versuchen angestrengt eine Lösung für unser Problem zu finden. Um uns herum dröhnen dumpf die riesigen Kessel und Kühlsysteme.
„Irgendetwas ist da undicht. Hier, du kannst es an den Einbrüchen des Graphen ganz deutlich erkennen. Da entweicht immer wieder Druck", murmle ich konzentriert und deute mit dem Finger auf die entsprechenden Stellen. Mein Kollege stützt sich mit den Unterarmen auf das graue Geländer vor uns und seufzt frustriert.
„Bloß wo?"
„Also wenn ich von außen einen Blick auf die Triebwerke werfen soll..."
Sowohl Jim als auch ich fahren beim Klang der dritten Stimme erschrocken herum. Als ich aber erkenne, wer da nur ein paar Schritte hinter uns steht, macht mein Herz einen glücklichen Satz!
„Beau!"
Die erfahrene Kundschafterin lächelt warm und zwinkert mir einmal aufmunternd zu.
„Was machst du-"
Erst jetzt fällt mir auf, dass Beau in ihrem weißen Fluganzug steckt. Und unter ihrem rechten Arm trägt sie ihren verspiegelten Helm. Ich spüre, wie das Lächeln aus meinem Gesicht verschwindet.
„Ich bin hier um mich zu verabschieden", sagt die junge Pilotin mit ruhiger Stimme und wirft einen schnellen Blick auf den Convensator an ihrem Handgelenk, „wir starten in knapp vierzig Minuten."
Diese Worte versetzen mir einen unsanften Stich in die Magengegend.
„Du-...du fliegst wieder weg? Jetzt schon?", stottere ich und sehe Beau erschrocken an.
Sie wollte doch erst in ein paar Tagen ihre nächste Mission beginnen!
„Auf dem Radar der Alignment ist gestern Abend ein Asteroid aufgetaucht. Er steuert direkt auf uns zu und das mit sehr hoher Geschwindigkeit. Wir müssen ihn umgehend eliminieren, bevor er dem Schiff zu nahe kommet. Der Captain hat mir diesen Auftrag persönlich übergeben. Es wäre sehr unhöflich gewesen, ihn abzulehnen. Außerdem ist die Hawk wieder vollständig einsatzbereit und ich fühle mich einigermaßen ausgeruht", erklärt die erfahrenen Kundschafterin die Situation sachlich und mit einem beruhigenden Unterton. Doch sie weiß genauso gut wie ich, dass sie mir meine Sorgen damit nicht nehmen kann. Das ist eine Sicherungsmission! Eine der gefährlichsten Missionen, die es für Kundschafter gibt! Ich spüre, wie sich in meinem Magen die Angst auszubreiten beginnt.
Egal wie oft Beau in ihrem Leben schon hinaus ins All geflogen ist und egal wie oft sie wieder gesund und wohlauf zu mir zurückgekehrt ist- ich kann einfach nicht anders!
Ich habe jedes Mal Angst um sie! Und es wird mit jedem neuen Flug ein kleines bisschen schlimmer...
„Ich-...pass einfach auf dich auf, okay? Wie lange wirst du weg sein?", frage ich bemüht gefasst und versuche die dunklen Vorahnungen und Emotionen in mir zu unterdrücken. Es gelingt mir mehr schlecht als recht.
„Nicht lange. Nur etwa zwei Tage. Ich bin wieder hier bevor du überhaupt merkst, dass ich weg war", erwidert Beau mit einem warmen Lächeln und ich sehe aus den Augenwinkeln, wie Jim sich mit verschränkten Armen an das Geländer lehnt.
„Ich passe in der Zwischenzeit auf, dass Reeva sich nicht ganz so viele Gedanken macht", sagt mein Freund mit tiefer Stimme und daraufhin tauschen er und Beau einen langen Blick. Die beiden kennen sich. Wenn auch nicht so gut. Aber die junge Pilotin weiß, wie nahe ich Jim stehe. Und Jim weiß mehr oder weniger, welche Gefühle ich für Beau hege. Ich beiße mir auf die Lippe und sehe zurück zu der hübschen Kundschafterin, die meinem Freund in diesem Moment ein dankbares Lächeln zuwirft.
In mir tobt das Chaos. Ich will Beau nicht gehen lassen! Ich habe Angst, dass sie bei der Zerstörung des Asteroiden von den umherschießenden Bruchstücken getroffen werden könnte!
Und diese Furcht ist nicht unbegründet! Es sind schon Piloten während einer Sicherungsmission in ihren Spähern verbrannt oder sogar explodiert!
Allein bei dem Gedanke daran, wird mir schlecht. Beau darf nichts geschehen! Aber ich bin absolut machtlos! Ich kann nichts tun...
„Danke, Jim. Und du, Reev, lass dich ruhig von ihm ablenken. Wir sehen uns in gut 48 Stunden wieder!"
Die hübsche Pilotin sieht mich aus ihren blauen Augen eindringlich an und hebt dann die Hand zum Abschied.
Ich will etwas sagen, will ihr alles Gute für ihren Einsatz wünschen, aber mein Hals ist wie zugeschnürt.
„Viel Erfolg! Und bis bald!", erwidert Jim taktvoll an meiner Stelle und hebt ebenfalls die Hand zu einem höflichen Gruß.
Beau lächelt flüchtig und wirft mir einen letzten langen Blick zu, ganz als würde sie noch auf etwas warten. Als ich jedoch nicht reagiere, dreht sie sich schweigend um und geht langsam davon.
Ich spüre, wie etwas in mir zerreißt. Und bevor der Riss einen noch größeren Schaden anrichten kann, bin ich schon losgerannt.
„Beau!"
Die junge Pilotin kann sich gerade noch rechtzeitig umdrehen, bevor ich mich aus vollem Lauf in ihre Arme werfe und mein Gesicht an ihrem warmen Hals verstecke.
Mir ist egal, dass uns Jim gerade dabei zu sieht, er weiß sowieso schon alles.
Ich darf Beau so nicht gehen lassen! Nicht so!
Die erfahrene Kundschafterin muss ein paar Schritte zurück weichen, um die Wucht meiner Umarmung abzufangen, doch sie zieht mich sofort eng an sich und hält mich fest. Ganz fest.
„Pass auf dich auf, versprich es mir", flüstere ich mit erstickter Stimme und spüre, wie Beau sofort zu nicken beginnt.
„Ich verspreche es dir, Kleine. Ich komme zu dir zurück. Hab keine Angst. Ich lasse dich nicht alleine", wispert Beau zärtlich in mein Ohr und ich schmiege mich nur noch näher an sie heran, genieße jede einzelne Sekunde in ihrer Nähe.
„Ich hasse es, dich gehen zu lassen. Es lähmt mich...", gestehe ich der schönen Frau leise und löse mich gerade so weit von ihr, dass ich in Beaus klare, blaue Augen sehen kann. Die junge Pilotin legt zart beide Hände an meine Wange und streichelt behutsam über meine Haut. Ihr Blick ist unendlich weich.
„Sieh hinauf zu den Sternen. Dann wirst du auch mich sehen", sagt sie sanft und ich nicke einmal stumm, zum Zeichen, dass ich verstanden habe.
Seitdem ich die andere Frau kenne, verabschiedet sie sich so von mir. Es ist ein unausgesprochenes Ritual zwischen uns beiden geworden. Und es gibt mir in diesem Moment die nötige Kraft loszulassen.
Beau schenkt mir ein letztes warmes Lächeln. Dann tritt sie einen Schritt zurück und hebt ihren Helm vom Boden auf, den sie bei meiner stürmischen Umarmung offenbar kurzerhand fallen gelassen hatte.
Ich sehe mit zusammengepressten Lippen dabei zu, wie Beau davon geht. So gerne würde ich ihr hinterherlaufen, sie festhalten und nie wieder loslassen. Aber ich weiß, dass das nicht geht.
„Sie wird zurückkommen. Ganz sicher", höre ich Jims mitfühlende Stimme unvermittelt ganz nah neben meinem Ohr und da spüre ich auch schon seine tröstende Hand auf meiner Schulter.
„Das ist mein einziger Wunsch. Es ist so verdammt gefährlich, Jim...", erwidere ich mit dünner Stimme und lehne mich Halt suchend an meinen alten Freund heran.
„Beau ist eine ausgezeichnete Pilotin. Die Beste die wir haben. Ihr wird nichts passieren", antwortet Jim mit fester Stimme und wendet sich dann wieder unserer Arbeit zu. Da seine Hand noch immer auf meiner Schulter liegt, bleibt mir nichts anderes übrig, als seiner Bewegung zu folgen und der Maschinenhalle den Rücken zu zudrehen. So kann ich auch nicht mehr sehen, wie Beau zwischen all den anderen Antriebsmechanikern allmählich verschwindet.
Aber vielleicht ist das auch besser so. Sonst laufe ich ihr wirklich noch hinterher.
„Verabschiedest du dich eigentlich immer so von ihr?", fragt Jim behutsam und führt mich zurück an die Wand, an der das Hologramm unseres Fehlerprotokolls noch immer zu sehen ist. Ich werfe ihm einen kurzen Blick zu.
„Ja. Wenn sie länger weg ist, dann schon", erwidere ich leise und ignoriere das schmerzhafte Brennen in meiner Brust.
Beau kommt zurück. Sie hat es versprochen!
„Hmm. Vielleicht fühlt Beau ja tatsächlich so wie du. Du solltest sie wirklich einmal danach fragen. Was hast du zu verlieren?"
Der stechende Schmerz in meinem Herzen stimmt ihm in diesem Augenblick voll und ganz zu. Aber ich weiß auch, dass ich mich das nie im Leben trauen werde. Zu groß ist die Angst, Beau könnte mich danach für verrückt halten!
„Eine Menge", erwidere ich mit rauer Stimme und wische mir verstohlen über die Augen, „aber lass uns jetzt weiter arbeiten."
Ich versuche meinen Kummer und den Schmerz über die frische Trennung mit aller Kraft zu verdrängen. So lange bis Beau wieder heil und gesund zurück auf der Alignment ist.
Ansonsten werde ich wirklich noch wahnsinnig. Und Verdrängen geht am besten mit Ablenkung! Ich werde die nächsten zwei Tage also wieder einige extra Schichten einlegen...

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