Kapitel 1:

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Anmerkung:
Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich kein Freund von Wildtieren im Zirkus bin. 1940 war dies aber leider noch ganz normal und davon handelt auch diese Geschichte.
Und zweites möchte ich eine Trigger-Warnung aussprechen, da in dieser Story unter anderem auch sexuelle Gewalt thematisiert wird.
Ich hoffe, damit habe ich alles klar und verständlich dargelegt.

Und jetzt viel Spaß beim Lesen :)

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„Ladies and Gentlemen, ich möchte eine atemberaubende, phänomenale und einzigartige Show sehen! Dieser Zirkus ist unser Leben! Unsere Familie. Unser Fleisch und unser Blut! Das Herz, das in uns allen schlägt. Und ich möchte, dass ihr dieses Herz heute Abend mit frischer, lebendiger Energie füllt!"
Im Zelt ist es mucksmäuschenstill, während die eindringlichen Worte meines Vaters verklingen. Nacheinander blickt er uns tief in die Augen, solange bis er sich sicher sein kann, dass wir auch in dieser Nacht alle unser Bestes geben werden. Um des Zirkus Willen.
„Zirkus ist Magie. Zirkus ist Faszination! Zirkus ist Begeisterung. Für groß und klein. Ich verlasse mich auf euch. Auf alle von euch! Und jetzt: Kopf hoch, Lächeln an und Licht aus!"
Mein Vater hebt siegessicher die Faust in die Luft und alle Anwesenden klatschen zustimmend Beifall. Außer mir selbst befinden sich noch unsere fünf Akrobaten und drei Seiltänzer in dem kleinen Zelt, das wir vor jeder Vorstellung aufsuchen, um meinem Vater zu lauschen. Carlo der Gewichtheber sitzt auf einer Bank in der Nähe des Eingangs und starrt grimmig auf seine schwieligen Hände hinab. Bruce, unser Dompteur und gleichzeitig mein Showpartner, lehnt mit verschränkten Armen am hölzernen Stützpfeiler und sieht nachdenklich zu meinem Vater hinüber.
Dieser greift nun jedoch stumm nach seinem schwarzen Zylinder und rückt noch einmal die rote Fliege an seinem Jackett zurecht, bevor er zusammen mit unseren beiden Clowns, Joe und Jack Richtung Manege geht. Sie und mein Vater werden zusammen mit unseren vier Musikern die Show heute Abend eröffnen.
Der Rest der Mannschaft verlässt leise murmelnd das Zelt und verstreut sich dann nach und nach auf der großen Grasfläche zwischen den aufgestellten Wagen, Zelten und Tiergehegen.
Auch ich trete nach draußen in die laue Abendluft und blicke gedankenverloren in den blass rosa Himmel hinauf. Die Sonne ist bereist am Horizont versunken. Nur die Spitze des größten Zeltes hebt sich noch deutlich gegen den verfärbten Himmel ab.
Meinem Vater gehört der Zirkus. Zirkus Zambini. Ich selbst bin in diese große Familie hineingeboren worden. Ich kenne also kein anderes Leben, als das eines Artisten. Seitdem ich denken kann, bereise ich das Land, schlafe mal hier und mal dort und trete fast jeden Abend in der Manege für unsere Gäste auf.
Früher, bevor meine Mutter starb, durfte ich mit ihr zusammen meine Tanzkünste, auch am Trapez, vorführen. Doch seit ihrem Tod arbeiten Bruce und ich zusammen. Er hält die Tiger für die Zuschauer unter Kontrolle. Und ich...ich tanze mit Ihnen.
Natürlich ist mir dabei immer bewusst, wie gefährlich mir Zeus, Hades, Hera und Dionysos durchaus werden könnten. Aber ich vertraue ihnen. Mehr als sonst einem Lebewesen auf dieser Welt.
Ich bin mit den Tigern aufgewachsen. Sie sind mein Leben. Meine Bestimmung. Und ich liebe sie. Aber nicht nur als Tiere, mit welchen ich arbeite. Als Freunde.
Zeus und Hera sind bereits als Welpen zu uns gekommen und ich habe beide mit der Flasche großgezogen. Jetzt mit 8 Jahren, sind sie mehr als ausgewachsen und auch als Hades und Dionysos vor etwas mehr als drei Jahren im Zirkus geboren wurden, gelang es mir ihre vier, doch sehr eigensinnigen Charaktere, zu einer harmonischen Zusammenarbeit zu bewegen. Jedenfalls in der Manege.
„Romy! Du solltest dich fertig machen, wir sind bald dran. Ich hole die Tiger!", ruft mir Bruce von weitem zu und reißt mich so aus meinen Gedanken. Ich hebe eine Hand, zum Zeichen, dass ich verstanden habe und mache mich dann langsam auf dem Weg zu meinem Wohnwagen. Die Vögel singen ihr letztes Lied auf den nahe stehenden Bäumen, als ich mein fahrendes Zuhause erreiche und die angelehnte Tür öffne.
Aus dem großen Hauptzelt höre ich die Menschen fröhlich klatschen und jubeln. Die Vorstellung hat also bereits begonnen.
Seufzend betrete ich den Wohnwagen und hole mein Kostüm aus dem Schrank. Es glitzert geheimnisvoll in Schwarz und Rot. Und als ich es angelegt habe, spüre ich sofort, wie mich dieses altbekannte Gefühl durchströmt.
Nach all den Jahren habe ich noch immer Lampenfieber.
Mein Herz klopft schneller und meine Hände greifen wie von selbst nach meinem Pinsel und der dunklen Farbe, die ich gekonnt um meine Augen herum auftrage. Mit einem roten Akzent, versteht sich.
Als ich fertig bin, betrachte ich mich prüfend im Spiegel. Noch immer verblüfft es mich, dort eine junge, athletische Frau zu entdecken und nicht mehr das kleine, schlaksige Mädchen mit den großen braunen Augen und den langen, dunklen Zöpfen, das frech in den Spiegel grinste.
„Wann bin ich bloß erwachsen geworden...", murmle ich mehr zu mir selbst und halte einen Moment inne.
Ich wollte nie erwachsen werden. Ich wollte an der Seite meiner Mutter weiter tanzen. Für immer.
Aber diese Entscheidung war nicht meine.
Und jetzt tanze ich ohne sie.
Und so wie mein Vater es für richtig hält.
Und solange er es für richtig hält.
Ich spüre, wie sich Tränen in meinen Augen sammeln, doch ich blinzle sie entschlossen weg.
Jetzt ist keine Zeit, um sich in Erinnerungen und Emotionen zu verlieren. Nicht jetzt...
Tief atme ich durch und setze ein lange einstudiertes Lächeln auf.
Meine Schultern straffen sich automatisch und ich hebe das Kinn.
Dann verlasse ich den Wohnwagen und laufe über die Wiese zu Bruce hinüber.
Ich habe eine Show zu liefern! Und ich werde meinen Vater nicht enttäuschen!

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