Kapitel 10:

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Das Gästezimmer in Junes Haus ist inzwischen mein zweites Zuhause geworden. Und June?
Sie ist mein sicherer Hafen. Ihr kann ich alles erzählen. Egal wie nichtig und unbedeutend es auch sein mag. Sie hört mir zu. Und sie versteht mich.
Die zwischen uns entstandene Verbindung ist unsagbar kostbar für mich geworden. Und auch wenn June es nicht direkt sagt, ich glaube auch sie genießt diese gemeinsame Zeit sehr.
Zwei Tage ist die letzte Vorstellung bereits her und an diesem Abend arbeite ich mal wieder unermüdlich in Junes Garten, um wenigstens einen Teil meiner Schuld einzulösen, als mir ein kleines Missgeschick passiert.
Vielleicht liegt es an meiner Erschöpfung aber gerade als ich einen der dornigen Rosenbüsche zurückschneiden möchte, rutsche ich mit dem Messer ab und schneide mir tief ins Fleisch.
„Autsch!!"
Der Schmerz schießt blitzartig durch meinen Körper und ich lasse reflexartig die blutige Klinge fallen, presse instinktiv eine Hand auf den klaffenden Schnitt in meiner Handfläche. Mit zusammengebissenen Zähnen muss ich mit ansehen, wie das dunkelrote Blut zwischen meinen Fingern hervorquillt und auf den staubigen Boden tropft.
Ich habe keine Wahl. Ich muss meine Arbeit unterbrechen und zum Haus zurückkehren, um meine Wunde zu verbinden. Eigentlich wollte ich June nicht damit belästigen, aber als ich das Wohnzimmer über die Terrasse betrete, kommt mir die schöne Schauspielerin mit besorgter Miene die Treppe herunter entgegengelaufen.
„Romy! Ich habe gesehen, dass du kommst. Was ist-"
Erst da fällt ihr Blick auf meine inzwischen blutüberströmte Hand und sie bleibt mit großen Augen wie angewurzelt stehen.
„Ich habe mich geschnitten. Es war dumm von mir...ich hätte auch weiter gearbeitet, aber die Blutung lässt sich nicht stoppen-", setze ich zu einer Erklärung an, doch June unterbricht mich schnell, indem sie eine sanfte Hand auf meinen Rücken legt und mich bestimmt in die Küche führt, um mich dort auf einen Stuhl zu setzen.
„Unsinn! Du hättest sofort zu mir kommen sollen. Hier, wasch deine Hände, damit kein Dreck in die Wunde gelangt, ich hole inzwischen Verbandszeug", weist mich June mit ernster Stimme an und deutet auf das Waschbecken, bevor sie eiligen Schrittes den Raum verlässt.
Wie mir befohlen, wasche ich gehorsam meine verletzte Hand und muss mir fest auf die Lippe beißen, als die Seife mit dem offenen Schnitt in Berührung kommt.
Als June zurückkommt, sitze ich wieder auf meinem Stuhl und habe ein Papiertuch auf die Verletzung gepresst. Zum Glück lässt die Blutung langsam nach.
„War das Messer sehr dreckig, bevor du dich damit geschnitten hast?", fragt mich June besorgt, während sie sich vor mich auf den Boden kniet und behutsam meine Hand in ihre nimmt.
„Nein, ich hatte nur Pflanzen damit geschnitten", antworte ich wahrheitsgemäß und sehe aufmerksam dabei zu wie June eine kleine braune Flasche öffnet, bei deren beißenden Geruch es sich eindeutig um Jod handeln muss.
Meine Hand und ein Teil meines Unterarms pochen inzwischen mehr als nur unangenehm.
„Ich werde den Schnitt trotzdem desinfizieren. Nur zur Sicherheit. In Ordnung?"
June blickt fragend zu mir auf und ich nicke tapfer.
„Dann wird es gleich etwas brennen. Bist du bereit?"
Wieder nicke ich, doch als die ersten Tropfen meine Haut berühren, hätte ich meinen Arm am liebsten ruckartig zurückgezogen. Es brennt wie die Hölle!
Aber ich halte trotzdem beharrlich weiter still und schon bald lässt der erste Schmerz etwas nach.
June jedoch studiert konzentriert meine Wunde und fordert mich dann besorgt dazu auf, meine Finger zu bewegen. Es tut zwar weh, aber es funktioniert.
„Ein Glück. Du hast keine Sehne und keinen Muskel durchtrennt. Ich denke, du wirst außer einer Narbe keine weiteren Einschränkungen davontragen", sagt die junge Schauspielerin erleichtert und lächelt mir aufmunternd zu. Ich erwidere das Lächeln, aber während June den Schnitt vorsichtig mit einer gelben Salbe betupft und meine Hand danach mit einem weißen Verband verbindet, kann ich meinen Blick einfach nicht von ihrem schönen Gesicht abwenden.
Ich studiere jede noch so kleine Narbe auf ihrer linken Wange, sehe dabei zu, wie sie ihren Hals hinunter laufen und frage mich, welche Schmerzen June damals ausgehalten haben muss... Manche der weißen Narben sind flach und beinahe unscheinbar auf ihrer ansonsten makellosen Haut, doch je weiter sie sich Junes Körper hinabziehen, desto tiefer und breiter werden sie. Ich schlucke einmal heftig und komme nicht umhin erneut festzustellen, dass June trotz der Narben eine wunderschöne Frau ist. Ihre Gesichtszüge sind so elegant und anmutig, daran können auch die Klauen eines Tigers nichts ändern. Und ihre Augen-
„Ich glaube kaum, dass du eine Narbe davontragen wirst, die sich auch nur annähernd mit einer der meinen vergleichen lässt", reißt mich June plötzlich mit rauer Stimme aus meinen Gedanken und ich bemerke überrascht, dass sie ihre Arbeit an meiner Hand inzwischen beendet hat und mich nun mit einem seltsam harten Blick ansieht.
Ich aber schüttle nur sanft den Kopf und halte June schnell am Arm fest, als sie aufsteht und sich von mir abwenden will.
„Selbst wenn. Ich finde sie wunderschön, June. Du bist wunderschön. Bitte deute meine Blicke nicht falsch", sage ich leise und sehe der jungen Schauspielerin tief in ihre grünen Augen.
„Danke, dass du mir geholfen hast. Mal wieder...ich bewundere dich, June. Und ich wünschte, ich wäre wie du."
Ich meine diese Worte absolut ernst. Jedes einzelne davon. Und das scheint auch June zu spüren, denn ihre harten Gesichtszüge werden wieder weich und sie legt zart eine warme Hand an meine Wange.
„Sei du selbst. Du bist richtig, genau so wie du bist."
June schenkt mir noch ein liebevolles Lächeln und will sich dann von mir zurückziehen, aber das lasse ich nicht zu.
Schnell trete ich einen Schritt vor und schließe die ältere Frau in einen enge Umarmung, schmiege mich vertrauensvoll an ihren schlanken Körper heran.
Stumm nimmt mich June ebenfalls in die Arme und für den Moment genießen wir einfach nur die warme Berührung des anderen.
Es ist das erste Mal in vielen Jahren, dass ich diese Art von Nähe genießen kann. Das Gefühl von einem anderen Menschen gehalten zu werden, sich geborgen und geschätzt zu wissen...ganz anders als all die Berührungen der fremden Männer, die ich über mich ergehen lassen musste.
Und unvermittelt frage ich mich, ob June diese bösen Erinnerungen mit ihrer Nähe wohl verscheuchen könnte...
„Du solltest jetzt duschen und danach ins Bett gehen. Dein Tag war anstrengend", murmelt June leise in mein Ohr und ich nicke still an ihrem Hals, will mich noch nicht von der anderen Frau trennen. Und glücklicherweise zwingt mich June auch nicht dazu. Sie hält mich fest. Lange. So lange, bis ich mich schließlich von ihr zurückziehe und wir uns zart anlächeln.
„Nun geh schon", fordert mich die berühmte Schauspielerin mit leiser Stimme auf und legt eine Hand auf meine Schulter.
Ich nicke nur brav und mache mich dann folgsam auf den Weg ins Obergeschoss.
In dieser Nacht schlafe ich so tief und fest wie noch nie.

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