Kapitel 5:

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June Evans

Mitten in der Nacht schrecke ich schweißgebadet aus dem Schlaf hoch. Das Brüllen des Tigers hallt noch immer in meinen Ohren. Und die Narben an meiner Schulter pochen verräterisch. Als hätten sich gerade noch die messerscharfen Zähne einer großen Raubkatze hineingebohrt.
Nur ein Traum... es war nur ein Traum.
Tief atme ich durch und stütze dann meinen Kopf in meine Hände, um mich zu beruhigen. Noch immer verfolgt mich dieser Albtraum. Und ich fürchte, er wird auch nie ganz verschwinden, egal wie lange mein Unfall nun schon zurückliegt.
Meine Kehle ist trocken und fühlt sich wund an. Also stehe ich kurzerhand auf und schleiche auf Zehenspitzen die Treppe hinunter.
In meinem Wohnzimmer angekommen, halte ich kurz inne und betrachte nachdenklich die schlafende junge Frau auf meinem Sofa.
Ihr Gesicht sieht im Schlaf so entspannt und friedlich aus. Trotz allem, was sie in ihrem kurzen Leben schon erlebt hat. Und ich bin mir sicher, dass Romy mir bei weitem noch nicht alles über sich erzählt hat...
So leise wie ich nur kann schenke ich mir ein Glas Wasser ein und will dann wieder nach oben schleichen, doch da bewegt sich die hübsche Tänzerin unruhig und setzt sich schließlich ruckartig im Dunklen auf.
„June?"
Ihre Stimme ist leise, unsicher. Also trete ich näher an die Couch heran, sodass Romy mich auch im Mondschein, der durch das Fenster hereinfällt, erkennen kann.
„Ich bin hier", flüstere ich sanft und stelle mein Glas vorläufig auf dem Couchtisch ab. Als die junge Frau mich erkennt, lächelt sie erleichtert und setzt sich noch ein Stück aufrechter hin.
„Warum bist du wach? Ist alles in Ordnung?", fragt sie vorsichtig und ich wundere mich über diese Frage. Schon lange hat sich niemand mehr nach meinem Wohlbefinden erkundigt, nur weil ich nachts wach war.
„Ich hatte einen schlechten Traum. Aber das passiert mir öfter", gebe ich leise zurück und knie mich vor ihr auf den Teppich.
„Darf ich fragen, wovon du geträumt hast?"
Ich zögere einen Moment. Soll ich es ihr wirklich sagen? Andererseits, was habe ich zu verlieren?
„Es...es ist immer derselbe Traum. Ich träume von meinem Unfall damals. Und es ist jedes Mal wieder schrecklich", murmle ich und sehe Romy ehrlich in die Augen. Die junge Artistin greift daraufhin vorsichtig nach meiner Hand. Und ich...ich lasse es zu.
„Es tut mir so leid, was dir widerfahren ist, June. Noch mehr, dass es ein Tiger war. Sie sind so wunderschöne, einfühlsame und liebevolle Geschöpfe-"
„Ich mache dem Tiger keinen Vorwurf, Romy", unterbreche ich die hübsche Tänzerin behutsam und drücke einmal zart ihre Hand in meiner, „es war nicht seine Schuld. Er war eingesperrt, wurde misshandelt, damit er gehorchte und ich habe zugelassen, dass man ihn zwingt mit mir zu arbeiten. Ich hätte es besser wissen müssen. Und gewissermaßen bin ich auch für seinen Tod verantwortlich."
„Nein. Nein, das bist du nicht, June. Hätte man ihn nicht erschossen, hätte er dich womöglich getötet. Du hast auch so nur knapp überlebt. Es war einfach ein unglücklicher Unfall. Aber...ich- ich bin sehr froh, dass du noch hier bist..."
Die junge Frau stockt und beißt sich dann auf die Lippe. Ich spüre wie meine Gesichtszüge bei diesem Kompliment weich werden.
„Ich danke dir. Ich selbst bin auch sehr froh, trotz meiner Narben."
„Ich finde sie überhaupt nicht schlimm. Du bist noch immer bildhübsch. Genauso wie vor dem Unfall."
Ich schmunzle nur in der Dunkelheit und fühle eine leichte Röte meine Wangen hinaufkriechen.
„Schlaf jetzt weiter, Romy. Bis morgen."
Ich stehe auf und entziehe der jungen Frau so meine Hand. Romy hingegen legt sich gehorsam wieder hin und zieht die Decke über ihren erschöpften Körper.
„Gute Nacht, June."
Ich steige die Treppe wieder hinauf und während ich Stufe um Stufe erklimme, formt sich eine einziger drängender Gedanke in meinem Kopf. Ein Wunsch...Ein Bedürfnis.
Ich kann Romy nicht einfach wieder ihrem Schicksal überlassen. Denn ich sehe mich selbst in ihr. Nur mir konnte damals niemand helfen...
Wer wäre ich also, Romy diese Hilfe zu verweigern, die ich selbst so dringend benötigt hätte?

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