Kapitel 10:

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Ich renne so schnell ich kann! Die übermächtige Angst um Beaus Leben treibt mich zu neuen Höchstleistungen an.
Ich kann sie nicht im Stich lassen! Und ich kann erst recht nicht einfach so tatenlos zusehen, wie Beau stirbt! Ich brauche sie! Und ich...liebe sie.
Wenn mir eines in den letzten Minuten vollkommen klar geworden ist, dann das. Alleine der Gedanke daran Beau nie wieder zu sehen zerreißt mich förmlich. Und so werde ich auch nicht langsamer, als meine Lungen irgendwann heftig gegen das halsbrecherische Tempo zu protestieren beginnen und ein stechender Schmerz in meinen Seiten aufsteigt. Mein Ziel ist ganz klar!
Ich muss ins Ersatzteillager, einen neuen Trandensator suchen und dann auf schnellstem Weg zu einer der Rettungskapseln! Ich weiß zwar, dass eine unbefugte Benutzung dieser raren Kapseln normalerweise mit der sofortigen Aussetzung bestraft wird, aber das könnte mir gerade nicht weniger wichtig sein. Ein Leben hier oben ohne Beau scheint mir sowieso nicht mehr lebenswert!
Ich bin so schnell unterwegs, dass ich nicht einmal mitbekomme, wie mich die anderen Besatzungsmitglieder mit verwunderten Blicken mustern, als ich gehetzt an ihnen vorbei stürme. Jedenfalls so lange bis plötzlich eine vertraute Stimme meinen Namen ruft.
„Reev! Reeva!"
Es ist Jim. Mit besorgten Gesicht kommt er mir nachgelaufen, aber als ich nicht anhalte und auch nicht auf sein Rufen reagiere, packt er mich kräftig am Arm und hält mich fest.
„Lass mich los! Sie stirbt, Jim! SIE STIRBT OHNE MICH!", schreie ich ihm entgegen und reiße mich los, Jim starrt mich nur entsetzt an. Aber die Panik in meinen Augen macht jede weitere Erklärung überflüssig. Mein alter Freund versteht sofort.
„Was hast du jetzt vor?! Wie kann ich helfen?"
Kurz zögere ich einen winzigen Moment, doch ich weiß, dass ich Jims Hilfe bitter nötig habe. Ich brauche jedes bisschen Zeit, das ich kriegen kann!
„Besorg einen Trandensator für die Hawk. Model Z4954-B! Dann bring ihn zu den Rettungskapseln! Ich mache sie inzwischen startklar!"
Jim sieht mich ungläubig an. Doch dann tritt er einen Schritt zurück und macht so den weiteren Weg wieder frei.
„Du könntest dabei sterben! Ist Beau dir das wirklich wert?"
Für diese Antwort muss ich keine Sekunde überlegen!
„Ich liebe sie, Jim. Ich würde alles für sie tun."
Und dann renne ich auch schon wieder los. Zu meiner Erleichterung sprintet Jim nur einen Moment später in die entgegengesetzte Richtung davon und ich weiß, dass er mir helfen wird. Jetzt aber heißt es für mich: auf schnellstem Weg zu den Rettungskapseln!
Zum Glück befinde ich mich bereits ganz in der Nähe der wenigen Kapseln und so brauche ich nur drei Minuten, bis ich eine dieser kleinen Transportmittel erreiche und vollkommen atemlos hineinklettere.
Ich weiß ganz genau, dass auf der Brücke ein Alarm ausgelöst wird, sobald ich die Kapsel aktiviere, aber ich habe keine Wahl! Ich kann nur hoffen, dass Jim früher bei mir sein wird als der Sicherheitsdienst. Und sollte das nicht der Fall sein, werde ich trotzdem fliegen. Vielleicht kann ich die Hawk auch ohne Ersatzteil reparieren. Und wenn nicht...tja dann bin ich wenigstens bei Beau.
Beherzt lege ich den roten Schalter um und die Rettungskapsel erwacht sofort zum Leben. Um mich herum werden automatisch sämtliche Systeme hochgefahren und eine mechanische Stimme verkündet laut:
„Drei Minuten bis zum Start. System aktiv."
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und ich hoffe inständig, dass der Captain mein Vorhaben nicht erahnt und die Kapsel von der Brücke aus deaktivieren kann. Doch für Hoffen ist jetzt keine Zeit. In Windeseile mache ich mich mit all den unterschiedlichen Knöpfen und Schaltern vertraut und gebe die Zielkoordinaten auf dem Display ein. Es sind genau die Koordinaten, die die Gray Hawk hatte, als ich mich noch auf der Brücke befand. Vermutlich hat sich ihre Position in den vergangenen Minuten geändert, aber ich vertraue darauf, dass ich manuell zu Beau steuern kann, sobald sie in meiner Sichtweite ist.
„Ich schaffe das! Ich muss!", spreche ich mir selbst Mut zu, als ich mit fahrigen Fingern zwei weitere Knöpfe zur Vorbereitung des Starts drücke. In unserer Grundausbildung wurde jedem Mitglieder der Mannschaft detailgenau beigebracht, wie eine Rettungskapsel im Notfall zu bedienen und zu steuern ist. Und ich hoffe sehr, dass ich in den vergangenen 13 Jahren nichts wichtiges vergessen habe.
„Zwei Minuten bis zum Start. System hochgefahren."
„Komm schon, Jim", murmle ich angespannt und setze mich auf den Platz vor dem Steuerpult, schnalle mich mit dem dort angebrachten Gurt fest. Ich weiß, dass mich die Beschleunigung der Kapsel sonst mit voller Wucht gegen die Wand drücken würde. Und dann kann ich erst recht nicht mehr steuern.
Plötzlich nehme ich weit entferntes Fußgetrampel wahr und ich überlege kurz mich wieder abzuschnallen um bei einem Kampf mit dem Sicherheitsdienst bessere Chancen zu haben. Doch gerade als meine Finger den Verschluss lösen wollen, springt Jim keuchend in die kleine Kasel hinein und drückt mir einen flachen rechteckigen Kasten in die Hand.
„...habs geschafft...man sind die sauer...viel Glück...!", bringt er nur unter großer Mühe hervor, als über unseren Köpfen erneut die mechanische Stimme ertönt.
„Eine Minute bis zum Start. Zündung wird eingeleitet."
„Danke Jim! Das vergesse ich dir nie!", rufe ich meinem alten Freund noch hinter her, während dieser in Windeseile wieder aus der Rettungskapsel hinausklettert. Kaum dass er das kleine Transportmittel verlassen hat, drücke ich mit aller Kraft auf den grünen Knopf vor mir auf dem Steuerpult.
„Luke schließt. Countdown gestartet."
Ich schließe mit rasendem Herzen die Augen und halte den Kasten mit dem Trandensator eisern fest.
„Zehn. Neun. Acht. Sieben. Sechs. Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins. Start."
Eine unglaubliche Kraft drückt mich tief in meinen Sitz. Der Druck auf meiner Brust ist so enorm, dass ich mehrere Sekunden keine Luft bekomme und beinahe ohnmächtig werde. Wie eine Rakete schießt die Rettungskapsel aus der Alignment heraus und fliegt auf direktem Kurs zu den angegebenen Koordinaten. Erst nach einigen Momenten nimmt der Druck langsam ab und ich kann wieder normal atmen.
„Start abgeschlossen. Alle Systeme aktiv. Leite Zielflug ein."
Ich seufze erleichtert auf, doch mir ist vollkommen klar, dass das gerade nur der Anfang war. Der schwerste Teil meines Plans steht mir noch bevor. Und ich habe nicht mehr viel Zeit!
Da die Gray Hawk zum Zeitpunkt des Defekts nur wenige Flugstunden von der Alignment entfernt war und das Raumschiff direkten Kurs auf den Späher gehalten hatte, dauert es bei mir nur wenige Minuten, bis die Hawk als winziger Punkt endlich in Sichtweite kommt. Durch das schmale Steuerungsfenster in der Rettungskapsel sehe ich deutlich, wie ich an den anderen Piloten vorbeifliege, welche noch immer am Rande des schwarzen Lochs auf neue Befehle warten. Ich selbst bin nun hochkonzentriert. Mit geschickten Fingern schalte ich den Autopilot auf manuelle Steuerung um und bremse die Rettungskapsel Stück für Stück ab, um nicht bei voller Geschwindigkeit mit Beaus Späher zu kollidieren. Die Ankopplung erfordert höchstes Fingerspitzengefühl und es vergehen wertvolle Sekunden, bis ich mich mit der sensiblen Steuerung so weit vertraut gemacht habe, dass ich die Kapsel um 90° drehen kann. Beaus Späher befindet sich jetzt nur noch wenige Meter vor mir in der Schwerelosigkeit. Vorsichtig und behutsam bringe ich die Kapsel in die richtige Position und lege dann erneut einen Schalter um.
„Kopplungsvorgang eingeleitet."
Ich halte angespannt die Luft an. Durch die Rettungskapsel geht ein kurzes Rucken, doch dann ertönt ein lautes Zischen und ich weiß, dass nun Sauerstoff in den luftleeren Raum zwischen der Gray Hawk und der Kapsel gepumpt wird. Gleichzeitig spüre ich wie die Gravitation der Hawk meinen Körper erfasst und ich automatisch nach unten gezogen werde.
„Kapsel erfolgreich angedockt. Luke kann jetzt geöffnet werden."
Mir fällt ein wahrer Stein vom Herzen und ich befreie mich hastig aus meinem Gurt, wodurch auch ich wie ein Stein zum Boden der Kapsel falle, direkt auf die Luke. Eilig betätige ich den Knopf gleich daneben und mit einem leisen Rattern wird die Luke angehoben. Was ich dann sehe, lässt sich ohne Zweifel als das Schönste in meinem Leben beschreiben.
„Beau!!!"
Die Überraschung steht der jungen Pilotin unübersehbar ins Gesicht geschrieben, als sie mich erblickt, doch das ist mir egal! So schnell ich kann klettere ich durch die Luke ins Innere der Hawk und werde von Beau sofort in eine feste Umarmung gezogen.
„Reev!! Was machst du hier?! Bist du verrückt!? Du bist hier in Lebensgefahr!!!"
Viel zu schnell löst sich Beau wieder von mir und umfasst mit beiden Händen mein Gesicht, während sie mich fassungslos ansieht. Ich jedoch kann sie nur glücklich anlächeln.
„Ich lasse dich nicht sterben, Beau. Niemals!"
Und damit deute ich auf den schwarzen Kasten in meiner Hand. Erst jetzt fällt mir auf, dass Beau das Oberteil ihres Fluganzugs ausgezogen hat und nur noch ihr weißes Top darunter trägt. Ihre Haut glänzt vor Schweiß und auch ich merke wie mir zunehmend immer heißer wird. Die Hitze kommt aus dem Inneren des Spähers!
„Ich fürchte, dann hast du nicht mehr viel Zeit dafür! Denn wenn wir nicht bald in das schwarze Loch gesogen werden, grillt uns die Hawk bei lebendigen Leib!"

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