Kapitel 3:

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„Romy ist dein Name, richtig?", erkundigt sich Mr. Gibson bei mir, als ich seinen Arm ergreife und ich nicke nur stumm, während ich in das Gesicht des deutlich älteren Mannes blicke, mit dem ich heute Abend meine Zeit verbringen werde.
„Ja. Ich-"
Weiter komme ich nicht. Denn da unterbricht uns plötzlich wie aus dem Nichts eine zornige Frauenstimme.
„Sie sollten sich schämen!! Es ist Ihre eigene Tochter!"
Verwirrt wende ich mich um und sehe eine schlanke, blonde Frau auf uns zukommen. Ihr folgt in kurzem Abstand ein junger Mann, der sich aber bewusst im Hintergrund hält.
„Schlimm genug, dass Sie den Körper einer jungen Frau gegen Geld verkaufen, aber den Ihrer eigenen Tochter?! Haben Sie überhaupt ein Herz!? Sie sehen doch genau wie ich, dass das gegen ihren Willen geschieht!"
Die aufgebrachte Stimme der Frau ist kalt und zornig, doch als sie schließlich in den Lichtkegel neben meinen sprachlosen Vater tritt, zucke ich erschrocken zusammen.
Die fremde Frau ist niemand geringeres als June Evans.
Eine sehr erfolgreiche und einflussreiche Schauspielerin. Und wohl eine der wenigen Frauen auf dieser Welt, die unabhängig und eigenständig ist. Und somit frei ihre eigene Meinung äußern kann.
„Sagen Sie mir, wie viel hat er Ihnen gezahlt?", wendet sich Miss Evans nun direkt an meinen Vater. Ihre grünen Augen sind stechend und ihre sonst so roten Lippen bilden eine dünne Linie.
Noch immer geschockt beobachte ich wie mein Vater einmal sichtbar schluckt und sich dann erst einmal räuspern muss, bevor er antwortet.
„Zwei-...ähm, zweihundert Dollar."
Nicht nur ich sehe danach verblüfft dabei zu, wie die berühmte Schauspielerin mehrere Geldscheine aus ihrer kleine Handtasche holt und sie meinem verblüfften Vater kommentarlos in die Hand drückt.
„Das sind eintausend! Tun Sie damit, was Sie wollen, aber lassen Sie Ihre Tochter gefälligst aus dem Spiel! Sie ist noch viel zu jung, um diese Bürde mit sich zu tragen!"
Und mit diesen Worten und einem letzten verärgerten Blick, dreht sich June Evans abrupt um und verschwindet in der Dunkelheit.
Mr. Gibson, mein Vater und ich sehen uns nur stumm an. Doch dann kommt endlich wieder Leben in meine Beine und ich lasse den Arm von Mr. Gibson los. So wie es aussieht, bin ich ihm heute Abend tatsächlich entkommen.
„Warten Sie!"
Ich beginne zu laufen und habe die junge Schauspielerin hinter der nächsten Ecke zum Glück eingeholt.
„Sie...warum haben Sie das getan?", frage ich etwas atemlos und spüre, wie mein Herz schneller klopft, als Miss Evans ebenfalls stehen bleibt und sich zu mir umdreht. Ihre grünen Augen mustern mich ernst.
„Weil ich weiß, wie es sich anfühlt. Und weil ich es dir ersparen möchte. Wie ich schon sagte, du bist noch viel zu jung, um deinen Körper diesen Männern zu geben. Vor allem nicht gegen deinen Willen."
Die Stimme der erfolgreichen Schauspielerin ist jetzt deutlich wärmer als noch vor einigen Augenblicken und sie lächelt mich traurig an.
Erst jetzt bemerke ich die feinen, weißen Narben auf der linken Seite ihres schönen Gesichts, die sich bis über den Hals und einen Teil ihres Dekolletés ziehen.
Ich muss heftig schlucken, als mir wieder die Schlagzeilen der Zeitungen vor nun beinahe sechs Jahren durch den Kopf schießen.
Junge Schauspielerin von Tiger brutal angefallen!
June Evans überlebt Angriff am Set nur knapp!
Diese Narben werden sie für immer entstellen!!
Es wurde damals sogar im Fernsehen darüber berichtet. June wurde beim Dreh ihres Films von einem Tiger angegriffen und mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht. Der Tiger aber musste von seinen Wärtern erschossen werdem, um Junes Leben zu retten. Trotzdem war es lange nicht gewiss, ob die schöne Schauspielerin tatsächlich überleben würde. Noch ob sie je wieder ihren Beruf ausüben könnte.
Aber June Evans hat es geschafft. Und mittlerweile dreht sie auch wieder erfolgreiche Kinofilme.
„Sie...Sie sind sehr mutig", antworte ich mit leiser Stimme und bekomme daraufhin ein ehrliches Lächeln der anderen Frau geschenkt.
„Nicht halb so mutig wie du, Romy. Ich musste heute all meinen Mut zusammen nehmen, um in eure Vorstellung zu gehen und du bewegst dich zwischen den Tigern, als wären sie zahme Kätzchen. Wirklich sehr beeindruckend."
Ich senke verlegen den Kopf, innerlich bin ich jedoch wahnsinnig stolz auf dieses Kompliment von Miss Evans.
„Ich bin mit ihnen groß geworden. Die Tiger kennen mich, seitdem sie geboren wurden", sage ich sanft und wieder lächelt June warm und bedeutet mir dann mit einer Handbewegung ihr zu folgen.
Bereitwillig folge ich der älteren Frau, immerhin gehöre ich dieser Nacht ja sozusagen ihr, oder?
„Wie lange macht dein Vater das schon mit dir? Dich nach deiner Vorstellung an fremde Männer zu verkaufen?", fragt sie dann leise und sieht mich prüfend an.
Ich beiße mir auf die Lippe und versuche an das erste Mal zurück zu denken, ohne allzu viele Erinnerungen wachzurütteln.
„Seitdem ich ungefähr sechzehn bin, also seit gut vier Jahren", antworte ich ebenso leise und traue mich nicht, der schönen Schauspielerin ins Gesicht zu sehen. Mir ist dieser Umstand mehr als nur unangenehm.
„Und weißt du, warum dein Vater es tut?"
Ich zucke nur mit den Schultern.
„Er sagt, ich muss meinen Teil zu unserer Familie beitragen, genau wie jeder andere. Außerdem brauchen wir das Geld. Auch für die Tiger. Und für diese vier würde ich alles tun..."
Meine Stimme wird immer leiser, bevor ich schließlich verstumme.
Natürlich weiß ich selbst, dass es nicht normal ist, mit so vielen Männern Tag ein Tag aus nachhause zu gehen und es bereitet mir auch keine Freude. Im Gegenteil! Am Anfang war ich mehr als nur angeekelt, aber ich habe es immer irgendwie geschafft. Und mich in diesem Punkt gegen meinen Vater zu stellen, ist unmöglich.
„Und das weiß dein Vater. Durch die Tiger hat er dich in der Hand. Wenn du nicht gehorchst droht er dir, ihnen etwas anzutun, richtig?", sagt June sanft und ich sehe sie erschrocken an.
Woher weiß sie nur so viel über mich?
„Ich-...", setze ich zögernd an, doch die erfolgreiche Schauspielerin unterbricht mich nur mit dem leichten Schütteln ihres Kopfes.
„Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich weiß, dass es so ist. Und es ist nicht gut. Ich wünsche dir wirklich, dass du aus diesem Teufelskreis irgendwann ausbrechen kannst, Romy. Du bist eine starke junge Frau. Du kannst es schaffen."
Dann legt Miss Evans vorsichtig eine Hand auf meine Schulter und blickt mich aus ihren grünen Augen tief an.
Ich spüre die Wärme ihrer Haut durch meine dünne Jacke hindurch. Doch der Moment währt nicht lange.
Denn dann wendet sich die junge Schauspielerin erneut abrupt ab und geht schnellen Schrittes über die Wiese davon.
Ich zögere noch einen Moment. Doch andererseits möchte ich auch meinem Vater und vor allem Mr. Gibson heute Abend ungerne noch einmal begegnen. Also tue ich das einzig richtige in meinen Augen.
Ich laufe June wieder hinterher.
„Ich fürchte, Sie werden mich in dieser Nacht nicht mehr los. Immerhin...immerhin haben Sie meinem Vater ziemlich viel Geld bezahlt", sage ich verlegen, als ich die andere Frau kurz darauf eingeholt habe.
Miss Evans mustert mich einem Moment lang von Kopf bis Fuß, dann schmunzelt sie und nickt schließlich langsam.
„Wenn das so ist...hast du Lust mich nachhause zu begleiten?"

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