Kapitel 2:

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June Evans

„Ich fühle mich nicht besonders wohl, Clark", wende ich mich angespannt an meinen alten Freund und gleichzeitig Kollegen und bleibe unschlüssig einige Meter vor dem rot-weiß gestreiften Zirkuszelt stehen.
Bereits hier höre ich von weitem das leise Knurren riesiger Raubkatzen und mir läuft eine Gänsehaut den Rücken hinunter.
Ich versuche meine Angst zu unterdrücken, doch mein Herzschlag beschleunigt sich ganz von alleine und ich beginne zu zittern.
Auch der süßliche Duft von gebrannten Mandeln, Popcorn und anderen Leckereien in der Luft, kann den schweren Geruch der großen Tiger nicht überdecken. Und in mir sträubt sich alles, auch nur einen Schritt weiter zu gehen.
Clark ist inzwischen stehen geblieben und sieht mich bittend an.
„June, du hast es mir versprochen. Außerdem waren die Karten nicht gerade billig. Wir sitzen sogar in der ersten Reihe, ist das nicht toll?", sagt er lächelnd und hält mir dann auffordernd seinen Arm hin, den ich nach kurzem Zögern auch ergreife.
„Genau das macht mir eigentlich am meisten Bauchschmerzen", erwidere ich zweifelnd. Aber es stimmt. Ich habe Clark versprochen heute mit ihm den Zirkus in der Stadt zu besuchen. Und ich wusste auch, was auf mich zukommen würde. Mir war nur nicht bewusst, wie sehr ich nach fast sechs Jahren noch auf all diese Eindrücke reagieren würde.
Mit ausdruckslosem Blick lasse ich mich also von meinem Freund in das große Zelt und dann zu unseren Plätzen führen.
Dort sitzen bereits der Bürgermeister und seine Frau, sowie ein paar andere wichtige Persönlichkeiten. Clark und ich halten höflichen Smalltalk mit ihnen, bis sich schließlich alle Leute auf ihren Bänken niedergelassen haben und das Licht gedimmt wird.
Erwartungsvolle Stille kehrt in dem großen Zelt ein.
Nur die Manege ist jetzt noch hell erleuchtet. Mit einem Mal ertönen laute Fanfaren. Und just in diesem Moment wird die sandige Fläche vom Zirkusdirektor und zwei bunt bemalten Clowns betreten.
Die Vorstellung beginnt und ich versuche meine Nervosität so gut es geht unter Kontrolle zu halten. Es gelingt mir mehr schlecht als recht. Sogar die zugegeben sehr komischen Clowns mit ihren ungeschickten Bewegungen und frechen Sprüchen auf den Lippen, können mir lediglich ein kleines Lächeln entlocken.
Beinahe jede Faser in meinem Körper ist über die Maßen angespannt. Mein Herz klopft mit jeder vergangenen Minute schneller. Und meine Finger zittern wieder. Ich höre wie die Leute bewundernd aufschreien, als drei Seiltänzer wenig später mutige Kunststücke in luftiger Höhe vorführen. Ich selbst kann dieser Darbietung aber nur wenig abgewinnen. Zu sehr bin ich mit mir selbst und meiner wachsenden Furcht beschäftigt.
Und dann ist es so weit.
Die Trommeln spielen einen lauten Tusch.
Der rote Vorhang wird mit einer fließenden Bewegung zurückgezogen.
Ein Mann mit schütterem Haar und langer Peitsche betritt die Manege. Und an seiner Seite:
Vier ausgewachsene, weiße Tiger.
Mein Mund ist staubtrocken. Ich will schlucken, doch ich kann nicht. Ich bin wie erstarrt. Wie hypnotisiert starre ich die Raubkatzen an, sehe dabei zu, wie sie sich gehorsam auf ihren Platz setzen und dann zu dem Mann mit der Peitsche am Rand der Manege hinüber sehen.
Clark neben mir und auch alle anderen Menschen im Zelt klatschen begeistert und verfolgen aufmerksam die Vorführung.
Ich aber habe genug damit zu tun, meine Angst unter Kontrolle zu halten.
Plötzlich jedoch wird das Licht der Scheinwerfer nach oben gelenkt und fällt dort auf ein Trapez, welches in gut fünf Metern Höhe unter dem Dach des Zeltes befestigt ist. Darauf sitzt eine junge Frau und während die Musiker leise auf der Flöte spielen, sinkt das Trapez mit ihr darauf in die Mitte der vier Tiger hinab. Kurz bevor sie aber in ihre Reichweite gelangt, dreht sich die hübsche Artistin auf den Rücken, sodass die kopfüber an der dünnen Holzstange hängt.
Durch die Menge geht ein atemloses Raunen. Denn wie auf ein unsichtbares Kommando springen die Raubkatzen plötzlich auf und begrüßen die Akrobatin vorsichtig, als sie langsam die Hände nach ihnen ausstreckt.
Und dann passiert etwas, das ich nicht für möglich gehalten hätte.
Es entwickelt sich ein wunderschöner, anmutiger Tanz zwischen der junge Frau und den weißen Tigern. Sie springen mit ihr, rollen sich auf dem Boden, drehen sich und stützen sich mit ihren großen Pranken auf ihren schlanken Schultern ab.
Und nicht ein einziges Mal macht auch nur eine der gefährlichen Raubkatzen Anstalten, die talentierte Artistin anzugreifen.
Mein Atem strömt nur unregelmäßig aus meinen Lungen, während ich diesem bezaubernden und doch so tödlichen Tanz zwischen Mensch und Tier zusehe.
Gegen meine Willen bin ich fasziniert davon. Genau wie all die andern Leute um mich herum. Und ich vergesse sogar für eine kurze Weile, die Furcht tief in mir.
Wirklich beeindruckt bin ich jedoch erst, als die Show schließlich endet, und die hübsche Tänzerin sich in der Mitte der Mange anmutig zu Boden gleiten lässt. Auf leisen Pfoten kommen die Tiger angelaufen und platzieren sich gehorsam rund um die Artistin herum. Einer, der größte der vier Raubkatzen, setzt sich leise knurrend hinter sie, während die anderen drei sich neben und vor sie auf den feinen Sand legen.
Die junge Frau aber lehnt sich vertrauensvoll an ihren Schützling heran, und auch die anderen Tiger schmiegen ihre gewaltigen Köpfe mit den messerscharfen Zähnen an ihren schlanken Körper.
Die Musik verklingt. Und das Licht erlischt.
Kurz ist es noch still. Doch dann springen die Zuschauer begeistert von ihren Sitzen auf und klatschen wie wild, jubeln und pfeifen. Auch Clark hat sich von seinem Platz erhoben und applaudiert lachend. In seinen Augen sehe ich das vertraute Glitzern, wie immer wenn ihm etwas außerordentlich gut gefallen hat...
Die talentierte Tänzerin hat sich inzwischen wieder erhoben und verbeugt sich mehrmals mit einem strahlenden Lächeln, bevor sie leichtfüßig zusammen mit ihren Tigern die Manege verlässt.
Auch ich bin inzwischen aufgestanden und spüre deutlich, wie die Nervosität und Anspannung von mir abfallen, als die vier Raubkatzen das Zelt endlich verlassen haben und der rote Vorhang sich mit einem leisen Rascheln hinter ihnen schließt.

Den Rest der Vorstellung kann ich nun regelrecht gelöst verfolgen. Ich mache mir sogar den Spaß mit Clark zu wetten, wie viel Gewicht der muskelbepackte Mann in der nächsten Showeinlage wirklich heben kann oder ob er es schaffen wird, sich aus den massiven Eisenketten zu befreien.
Auch die fünf Akrobaten in luftiger Höhe führen außergewöhnlich tolle Kunststücke vor und als der Vorhang schließlich zum letzten Mal fällt, klatsche ich zusammen mit Clark, bis mir meine Hände weh tun. Besonders laut wird der Applaus noch einmal, als die attraktive Tänzerin leichtfüßig das Zelt betritt und sich zum Abschied lächelnd in jede Richtung verbeugt.
Vor allem die anwesenden Männer tun dabei ihre Begeisterung laut und deutlich kund.
Als die Vorstellung schließlich beendet ist, schlendere ich zusammen mit Clark über die dunkle Wiese hinüber zu den Wohnwagen und kleineren Zelten der Zirkusleute. Wir wollen vermeiden, dass uns allzu viele Menschen ansprechen, die uns während der Show möglicherweise erkannt haben. Ganz gelingt uns das natürlich trotzdem nicht. Aber das ein oder andere Autogramm, verbunden mit einem kurzen Gespräch gebe ich sogar gerne.
„Das war doch ein toller Abend, oder nicht?", fragt Clark lächelnd als wir wieder alleine sind und bleibt an einem Gehege mit etlichen Ziegen und Schafen stehen, um sie zu beobachten.
„Allerdings. Ich bin sehr froh, dass du mich mitgenommen hast, Clark. Auch wenn der Auftritt der Tiger...etwas nervenaufreibend für mich war", erwidere ich ebenfalls mit einem Lächeln und lasse meinen Blick über die friedlich grasenden Tiere schweifen.
Nach einer Weile der angenehmen Stille hake ich mich wieder bei meinem alten Freund unter und wir setzen unseren nächtlichen Spaziergang fort, als plötzlich leise Stimmen aus der Dunkelheit zu uns herüber geweht werden.
Ich kann nicht genau verstehen, was gesagt wird, aber als Clark und ich kurz darauf um die nächste Ecke biegen, sehe ich im Lichtschein einer geöffneten Wohnwagentür unvermittelt den Zirkusdirektor mit einem anderen Mann reden. An seinem feinen Anzug und den säuberlich zurückgekämmten Haaren, erkenne ich, dass es sich um einen Mann aus der gehobenen Gesellschaft handeln muss.
Ich sehe meine Begleitung stirnrunzelnd an, als der wohlhabende Mann dem Zirkusdirektor mehrere Geldscheine in die geöffnete Hand drückt.
„-abgemacht. Sie bringen sie aber vor 8 Uhr morgens wieder zurück!", sagt der Direktor mit gedämpfter Stimme und zählt prüfend die Scheine in seiner Hand durch.
„Natürlich", erwidert sein Geschäftspartner mit dunkler Stimme.
Und vielleicht wären Clark und ich daraufhin einfach weiter gegangen, wenn nicht noch etwas passiert wäre.
„Romy! Komm sofort her!", ruft der Zirkusdirektor herrisch und nur wenige Augenblicke später kommt eine junge Frau aus der Dunkelheit auf ihn zugelaufen. Im flackernden Licht des Wohnwagens erkenne ich trotz der übergeworfenen Jacke ihre schlanke Figur und die anmutige Körperhaltung. Kein Zweifel. Es handelt sich um die hübsche Artistin mit den vier weißen Tigern. Doch anders als bei ihrem Auftritt vor ein paar Minuten, starrt sie nun mit gesenktem Blick auf den dunklen Boden. Und als der Zirkusdirektor sie daraufhin unsanft mit dem Ellbogen anstößt und die junge Frau aufblickt, erscheint lediglich ein kleines, stilles Lächeln auf ihrem sonst so attraktiven Gesicht. Ich brauche nicht noch einmal hinzusehen, um zu erkennen, das dies kein echtes Lächeln ist.
„Du wirst Mr. Gibson hier heute Nacht Gesellschaft leisten. Er bringt dich morgen  wieder zurück. Verstanden?!"
Ich bleibe wie angewurzelt stehen.
Erst jetzt begreife ich, was hier gerade vor sich geht! Und an der Art wie die junge Artistin den ausgestreckten Arm des fremden Mannes ergreift, weiß ich, dass es nicht zum ersten Mal geschieht.
„Ja, Vater."
Die Stimme der attraktiven Tänzerin klingt schwach und erschöpft. Und sie hat auch jeden Grund dazu. Immerhin war ihr Auftritt körperlich wahnsinnig anstrengend! Zorn und Fassungslosigkeit über das mir dargebotenen Schauspiel steigen in mir hoch und ich lasse augenblicklich Clarks Arm los. Wenn ich jetzt nichts unternehme, wird es niemand tun!
„June, nicht!", will mein Freund mich noch zurückhalten, doch ich höre nicht auf ihn. Schnellen Schrittes laufe ich zu der kleinen Gruppe hinüber, die Hände zu wütenden Fäusten geballt!
Ich kann bei dieser Abscheulichkeit nicht einfach tatenlos zusehen. Ich kann es nicht...

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